1968 drehte Edgar Reitz an einem Münchener Gymnasium die Doku „Filmstunde“. Nun kommt „Filmstunde 23“ mit den damaligen Protagonistinnen ins Kino.
Filmemacher Edgar Reitz„Die guten Filmemacher sind zurzeit nicht die Mitteleuropäer“
Herr Reitz, wie viel von Ihrem alten Film aus dem Jahr 1968 ist in den neuen eingeflossen?
Das sind nur Ausschnitte, die wir da zeigen. Also der Film von 1968 ist ja knapp zwei Stunden lang. Zur Gänze wurde er damals einmal auf dem dritten Programm im Bayerischen Rundfunk gesendet und ist seitdem so gut wie nie mehr gezeigt worden. Was wir davon nun in „Filmstunde 23“ sehen, das sind Ausschnitte, mit denen man jetzt die gegenwärtige mit der damaligen Situation in Verbindung bringt.
„Filmstunde 23“ ist ein Film, in dem es besondere Freude bereitet, in Gesichter zu schauen und Augen glänzen zu sehen.
Ja, nicht wahr? Darin liegt auch für mich ein großer Charme dieses Films. Wobei es die Hürde zu nehmen galt, dass nicht nur die Mädchen von damals und 55 Jahre später als Frauen zu sehen sind, sondern auch ich selber. Und weil ich eben fast die ganze Zeit über im Bild bin, habe ich dann die erfahrene Unterstützung von Jörg Adolph hinzugezogen, denn im Blick auf sich selbst braucht man eine neutrale dritte Person.
Quasi als Korrektiv.
Als Korrektiv und als Objektivierung, ja.
Sieht man die Szenen von 1968, so ist doch wirklich erstaunlich, wie schnell die Mädchenklasse es lernte, die richtigen Fragen im Blick auf Filmemachen und Filmerzählen zu stellen.
In der Tat, wobei es heute sicher schwieriger wird. Das liegt daran, dass die heutigen jungen Leute sehr ich-bezogen sind. Und das liegt an der Selfie-Kultur, die unvermittelt da einsetzt, wo Smartphones zum Einsatz kommen; also eigentlich immer.
Wo sehen Sie das Problem?
Wenn heute einer sein Handy in die Hand nimmt, richtet er es auf sich selbst. Es wird nicht nach draußen auf die Welt geschaut, um sich mit anderen in Verbindung zu setzen oder in das Gesicht der Mitmenschen zu schauen. Da ist ein Wandel entstanden, der mindestens eine ganze Generation erfasst hat, und die ist sehr ich- und sehr gegenwartsbezogen. Da sehe ich den wesentlichen Unterschied zur damaligen jungen Generation, die sehr zukunftsorientiert dachte und Freude daran hatte, sich sozusagen in der Gesellschaft zu spiegeln.
Ja, damals wurde ja bevorzugt mit Fotoapparat oder für Bewegtbild mit Super-8-Kamera gearbeitet, und bei beidem weist das Objektiv unmissverständlich auf das, was gefilmt werden soll. Diese Form der Bewusstmachung ist dem Filmen mit dem Handy abhanden gekommen.
Ja, und das hat leider sehr standardmäßige und sehr gleiche Resultate zur Folge. Was die Leute in der Öffentlichkeit mit ihrem Handy machen, ist fast immer das Gleiche.
Was ist Ihnen dabei besonders aufgefallen?
Erstens, wie gesagt, diese starke Ich-Bezogenheit. Wohin man kommt, stets wird das Handy auf sich selbst gerichtet. Als wollte man Markierung setzen: Ich bin da, ich bin da, ich bin da.
Wo sehen Sie die Luft nach oben?
Das Handy heute kann doch eigentlich alles. Es könnte also auch ein Gerät werden, mit dem man die Ausdrucksweise des Mediums erkunden kann. Man könnte damit auch einen Filmunterricht bestreiten. Aber dazu bedarf es vollkommen neuer Zugangswege.
Sie gehörten 1962 zur Oberhausener Gruppe und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren sicherlich andere. Aber auch heute ließe sich sagen, dass Papas Kino tot ist. Brauchen wir nicht eine neue Oberhausener Gruppe, die Dinge benennt und in eine neue Richtung anschiebt?
Das wurde ja schon mal vor einigen Jahren öffentlich diskutiert. Aber sowas sagt sich gerne und leicht. Wer aber greift eine solche Initiative auf? Vielleicht ist es aber auch nur eine Frage der Zeit. Wir sind jetzt gerade in so einem Umbruch. Die digitalen Medien haben aktuell eine große Faszination wegen ihrer technischen Innovationen, wegen der Spielangebote und so weiter. Aber ich rechne damit, dass sich das verbraucht. Und dann sollte es die Frage geben, wie das zusammenwächst mit der Welt der Filmkunst. Wie finden sich die Möglichkeiten mit den Notwendigkeiten? Aber das sind natürlich alles nur Spekulationen und Hoffnungen.
Auf jeden Fall scheinen Sie kein Pessimist zu sein.
Fest steht für mich, wenn die Kinos schwinden und die Filmkritik schwindet, dann wird auch die Filmkunst schwinden. Und das ist ein wahnsinniger Verlust für das gesamte kulturelle Geschehen.
Schauen Sie sich noch gerne Filme an?
Ja, ich gehe sehr gerne ins Kino. Ich schaue Filme aber auch bei mir zu Hause, was natürlich keine Ausnahme ist, weil ich ein Profi bin. Deshalb habe ich eine eigene Projektion und sehe viele Filme, die nicht im Kino laufen.
Was findet bevorzugt Ihr Interesse?
Die guten Filmemacher sind zurzeit nicht die Mitteleuropäer, sondern sie leben und arbeiten in Ländern, in denen Krieg und Not herrschen und wo man sich verstecken muss, wenn man dreht, wie im Iran. Da blüht die Filmkunst.
Wie beschreiben Sie aus heutigem Blickwinkel Ihre Vorstellung von Filmverständnis?
Also ich vergleiche das mit der Sprache. Film ist auch eine Sprache, ein Ausdrucksmittel von unglaublichem Reichtum. Diesen Reichtum kennenzulernen, entdecken und genießen zu lernen, nutzen zu lernen, das wäre immer noch eine wahnsinnig wichtige Aufgabe des Bildungssystems. Und das wird nicht getan. Weshalb dann diese Seite, die Freude macht, die kreativ macht und einem die Werte erschließt, so gut wie nicht mehr betreten wird. Und deswegen ist es mein großer Wunsch, dass von der Bildungspolitik endlich etwas ausgeht und wirklich in die Hand genommen wird. Abgesehen davon, dass das gesamte Bildungssystem heute höchst reformbedürftig ist.
Wo sehen Sie da den Reformbedarf?
Im Grunde sind das verwandte Dinge. Man hört zum Beispiel, dass die Kompetenz, sich schriftlich und sprachlich auszudrücken, immer mehr verloren geht. Der Analphabetismus nimmt zu. Die Gesellschaft verliert eine Jahrtausende alte Kulturtechnik. Das Schreiben mit der Hand, das Schreiben von Briefen, von Mitteilungen, das Verständnis dafür, dass die Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern auch ihre Schönheit hat und ihre Tiefe und ihre Regeln, und ihre nutzbaren, jedem Menschen verfügbaren Elemente sind Instrument des Verstehens und des Ausdrucks. Das sind alles Erkenntnisse, die im Bildungssystem gar nicht mehr vorkommen. Dabei stellt sich doch immer mehr die Frage, was verloren geht an Menschsein und an Überlebensfähigkeit in dieser Welt, wenn wir das alles nicht mehr pflegen.
Dafür gelingt es der digitalen Welt, viele Verluste aufzufangen oder Alternativen zu bieten.
Möglich, aber wenn der Strom ausfällt, dann sitzen wir mit unseren digitalen Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Trockenen. Und es ist ja nicht nur der Strom. Terroristen haben schon sehr früh erkannt, wo die Gesellschaft verletzbar ist. Zum Beispiel ist ein Flugzeug auf der Rollbahn ein im Grunde fast nicht zu beschützendes Objekt. Und da sitzen dann 200 Menschen und sind potenzielle Opfer von Willkür. Ja, das Flugzeug auf der Rollbahn ist für mich ein Symbol für die Gesellschaft.
Wo sehen Sie filmische Kreativität auf dieser Verlustkurve angesiedelt? Gibt es zu viele Filmemacher, die sich mit den Förderinstitutionen arrangieren?
Ja, genau das ist leider der Fall. Meiner Ansicht nach ist das gesamte Gebäude aus den kreativen und wirtschaftlichen Kräften undurchschaubar geworden. Die Filmbranche hat mehr Geld denn je, wenn wir zusammenrechnen, was es an Fördergeldern gibt und was zusätzlich an Mitteln aus den neuen Medien wie den Streamingportalen in die Branche fließt. Es herrscht Vollbeschäftigung und alle filmtechnischen Betriebe und Zulieferer sind bestens im Geschäft. Und immer noch herrscht das Gefühl vor, es geht abwärts.
Könnte man sagen: Es wird wie wild produziert, aber bevorzugt für den Sofortverzehr, und danach kräht kein Hahn mehr nach dem Produkt, weil schon in der Folgewoche die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird?
Ja, das ist ganz ungesund, so was. Nehmen wir nur mal die hiesigen Ausbildungsstätten. Die spülen jährlich um die hundert neue Regiekräfte auf den Markt. Davor haben sie schon einen abendfüllenden Erstlings- oder Abschlussfilm gedreht. Wo sind diese Filme eigentlich? Einige wenige gelangen auf Festivals oder finden einen Verleih. Aber die meisten verlieren sich im Dunkel. Und das Jahr für Jahr. Das ist ein gespenstischer Zustand.
Herr Reitz, wie lange werden sie noch filmen?
Also ich habe gerade einen neuen Spielfilm fertig, der in absehbarer Zeit ins Kino kommt. Der Titel ist „Leibniz, Chronik eines verschollenen Bildes“.
Ich nehme an, es geht um den Philosophen und nicht um den Keks.
Ja, es geht um den großen Universalgelehrten, dessen Gedanken mich seit jeher begeistern.
Edgar Reitz wurde 1932 in Morbach in Rheinland-Pfalz geboren. Der Autor und Filmregisseur erlangte vor allem durch seine „Heimat“-Filmreihe Bekanntheit. Er war Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. „Filmstunde 23“ ist diese Woche in die Kinos gekommen.