Venedig – Wenn auf der Insel Lido di Venezia die Straßen von Menschentrauben blockiert sind, jugendliche Fans schreiend hinter verdunkelten Autos herlaufen und Stars wie Harry Styles, Cate Blanchett, Penélope Cruz oder Timothée Chalamet sich die Klinke in die Hand geben, kann man sich sicher sein: Die Filmfestspiele Venedig finden wieder statt.
Bis zur Preisverleihung am 10. September werden in der Lagunenstadt Filme präsentiert, die traditionell später gute Chancen bei den Oscars haben. Einen ersten Kandidaten hierfür gab es bereits zu sehen. Ein zentrales Thema fällt in den bisherigen Filmen auf. Und Edgar Selge machte in einer Rolle als junge Frau von sich reden.
Wer einen Oscar gewinnen könnte
Ein gutes Dutzend der 23 Wettbewerbsbeiträge war bisher zu sehen. Darunter „The Whale” von Darren Aronofsky (der 2009 bereits einen Goldenen Löwen für „The Wrestler” erhielt). Nachdem er längere Zeit von der Leinwand verschwunden war, feiert der US-amerikanisch-kanadische Schauspieler Brendan Fraser („Die Mumie”) darin sein Kino-Comeback.
In seiner Hauptrolle als Charlie, ein extrem übergewichtiger Mann, der sich wieder seiner Tochter annähern will, sorgte Fraser bei der Premiere für große Begeisterung. Medienberichten zufolge waren seine Augen während des Schlussapplauses und der Standing Ovations am Sonntagabend mit Tränen gefüllt. Der ganze Film spielt im Radius der paar Meter, die sich Charlie noch mühsam bewegen kann. Meistens sitzt er auf der Couch, mit rasselndem Atem und Schweißperlen auf der Stirn. Eine eindrückliche Performance, die Oscar-Vermutungen aufkommen ließ.
Wer auf dem Roten Teppich für Aufregung sorgt
Vor allem die Auftritte zweier junger Weltstars brachten zahllose Fans dazu, sich schon morgens einen Platz an den Absperrungen zum roten Teppich zu sichern. Zunächst sorgte Schauspieler Timothée Chalamet (26) für Aufregung - nach der Premiere seines neuen Films „Bones and All” waren Dutzende Fans zu beobachten, die schreiend seinem abgedunkelten Auto hinterher rannten.
Am Montag schließlich kam Popstar Harry Styles. Der 28-Jährige spielt eine Rolle in Olivia Wildes Thriller „Don't Worry Darling”, der am Abend seine Premiere feiern sollte. „Nachdem meine Mutter gestorben ist, bist du mein einziger Grund zu leben”, stand auf einem Fan-Plakat am Rand des roten Teppichs. Darauf angesprochen sagte Styles am Nachmittag, er wisse, dass er es seinen Fans zu verdanken habe, er selbst sein zu können und sich wohl dabei zu fühlen, sich auszudrücken.
Was die Deutschen in Venedig machen
Der einzige deutsche Film, der in Venedig (in einer Nebenreihe) läuft, ist „Aus meiner Haut”. Für seinen Debütfilm konnte Alex Schaad unter anderem Edgar Selge gewinnen. Erzählt wird von einer Gruppe Menschen, die auf eine Insel fahren, um eine Zeit lang ihre Körper zu tauschen. Selge spielt eine junge Frau, die aus bestimmten Gründen im Körper ihres Vaters gefangen ist - der skurrile Höhepunkt dieses Verwechslungsdramas, das zudem mit Jonas Dassler, Mala Emde und Dimitrij Schaad besetzt ist.
Selge sagte der dpa über seine Rolle: „Es gibt einen Satz von Marcel Proust, der heißt: Einen Körper zu haben ist an sich die größte Bedrohung für den Geist. Diesen Satz habe ich als Motto über meine Arbeit gestellt. Und da spielt es keine Rolle, ob ich in den Körper einer Frau schlüpfe, oder ob ich meinen eigenen Körper betrachte oder benutze. Das ist einfach ein Grund-Spannungsverhältnis, um das es da ging, und das hat mir großen Spaß gemacht.”
Familie als zentrales Thema: Was in den Filmen auffällt
Über die Dinge, die sich innerhalb jeder Familie abspielen, könnte man endlos viele Filme machen. Das sagte Schauspielerin Penélope Cruz in Venedig. Zwar sprach sie dabei über ihre Rolle im Wettbewerbsfilm „L'immensità” - doch zufällig beschrieb sie damit auch ein zentrales Thema vieler Beiträge bei den diesjährigen Filmfestspielen. Es sind die auf der Leinwand inszenierten inneren und äußeren Konflikte von Müttern, Ehefrauen, Töchtern und Vätern, die von Wettbewerbsfilmen wie „Bardo”, „Bones and All”, „Monica”, „L'immensità” oder „Les enfants des autres” im Gedächtnis bleiben.
Politik auf dem Filmfest
Auch die reale Welt spielt eine Rolle auf dem Festival. Die Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj während der Eröffnung war nicht das einzige Mal, dass der Krieg gegen die Ukraine Thema war. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa etwa präsentierte seinen Film „The Kiev Trial” über den Minsker Kriegsverbrecherprozeß 1946 gegen deutsche Kriegsgefangene, zwei weitere ukrainische Filme sind im Programm. In Anspielung auf Russlands Krieg gegen die Ukraine sagte Loznitsa in Venedig: „Geschichte wiederholt sich, wenn wir nichts daraus lernen.”
Im Wettbewerb laufen außerdem die Filme zweier iranischer Regisseure. Darunter „No Bears” des inhaftierten Regisseurs Jafar Panahi, der am Freitag Premiere feiert. Der Biennale-Direktor für den Bereich Kino, Alberto Barbera, las in Venedig eine Botschaft Panahis vor, die dieser im Gefängnis verfasst haben soll. „Für uns Filmemacher bedeutet Leben, Dinge zu erschaffen”, hieß es darin. Filmemacher würden im Iran von Teilen der Regierung als Kriminelle angesehen. Manche bekämen Berufsverbot, andere seien ins Exil gezwungen worden. „Und trotzdem ist die Hoffnung, wieder etwas zu erschaffen, unser Antrieb, weiterzumachen.”
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