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Filmfestival CannesAllein Wolodymyr Selenskyi überzeugt

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Aus Michel Hazanavicius' Zombiefilm Final Cut

Cannes – „Wird das Kino schweigen?“, fragte Präsident Selenskyj bei seiner überraschenden Ansprache an die Festivalgäste. „Wir brauchen einen neuen Charlie Chaplin, der beweist, dass das Kino nicht schweigt.“ Für einen Augenblick schienen sich zwei Bilder übereinander zu legen, während der Gala-Eröffnung im Grand Théatre Lumière: Hier die inzwischen längst selbst ikonische Videoaufnahme des Mannes im kurzärmligen Militärhemd. Und da die Erinnerung an Chaplins jüdischen Friseur, der im Finale seines berühmtesten Tonfilms auf dem Platz des „großen Diktators“ den Frieden auf Erden predigt.

Selenskyj erinnerte an Chaplins großen Diktator

Ist es banal angesichts Putins mörderischen Angriffskriegs in diesem Augenblick an die Unsterblichkeit eines Films zu denken? Ganz im Gegenteil. Chaplin wurde auch in der Sowjetunion verehrt, erst recht als ihn die USA als vermeintlichen Kommunisten verfolgten. Und nun wird einem einiges klar: Wie viel Kraft muss Selenskyj gerade aus diesem Film seines Idols gezogen haben und seinem Kampf gegen Goliath; schon als er noch selbst als Komiker die Missstände seines Landes ansprach, bevor man ihn zum Präsidenten wählte, um etwas dagegen zu tun. Und was hätte diese Nachwirkung seines Films Chaplin selbst bedeutet, der bis zu seinem Lebensende Zweifel hegte, ob das Lachen über Hitler moralisch richtig war.

Die Forderung nach einem Kulturboykott russischer Künstler wiederholte Selenskyj an diesem Abend indes nicht mehr – weniger als 20 Stunden vor der Premiere des russischen Wettbewerbsbeitrags. „Zhena Chaikovskogo“ („Tschaikowskys Frau“) ist bereits der vierte Film, den der Regisseur Kirll Serebrennikov in Cannes zeigt, erst im letzten Jahr war er mit „Petrov's Flu“ vertreten. Der Komponist der „Pathétique“ inspirierte ein geradezu uferlos pathetisches Drama – auch wenn im schweren Orchestersoundtrack nur wenige Töne des Komponisten selbst erklingen.

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Erzählt wird die Geschichte einer nie vollzogenen Ehe, eingegangen mit einer leidenschaftlichen Verehrerin. Geschlossen allein, um um Gerüchte über seine Homosexualität zu zerstreuen, bleibt sie gleichwohl bis zu seinem Tod bestehen: Die junge Frau verweigert sich in ihrer einseitigen Liebe kategorisch allem Scheidungsersuchen. Zweieinhalb Stunden lang orchestriert Serebrennikov die Schmerzen einseitiger Liebe, wobei sein aufwendiger Ausstattungsfilm nur in wenigen, spektakulären Traumsequenzen einen eigenen Stil entwickelt. Doch auch diese irrealen Choreographien finden kaum über visuelle Klischees hinaus. Schwule Orgien und das Begehren der schändlich behandelten Frau verschmelzen zu nicht immer geschmackssicheren Visionen wie einem Ballett nackter Männer mit Matrosenmützen. Selbstverständlich sollte ein russischer Film, der noch vor dem Krieg entstanden ist, keinem Kulturboykott geopfert werden. Künstlerisch betrachtet hätte diesen freilich niemand im Wettbewerb vermisst.

Michel Hazanavicius’ „Final Cut“ hieß ursprünglich „Z“

Ebenso wenig wie den außer Konkurrenz gezeigten Eröffnungsfilm: Michel Hazanavicius’ „Final Cut“ hieß ursprünglich „Z“, bis Putin diesen Buchstaben zu seinem Propagandazeichen machte. Im Vorspann der grotesken Farce über die Dreharbeiten eines Zombiefilms steht der ungeliebte Buchstabe noch immer.

Spätestens seit Truffauts Klassiker „Die amerikanische Nacht“ ist niemand mehr im Kino überrascht, wenn sich eine dramatische Filmszene als aufwendige Inszenierung erweist. Das macht Filme über das Filmemachen nicht weniger beliebt, besonders bei Eröffnungsgästen eines Festivals. Noch weniger echte Verblüffung erweckt allerdings die Inszeniertheit eines Zombieangriffs auf eine junge Frau, wenn man weiß, dass der Regisseur von „The Artist“ hier ein Remake präsentiert. Unter dem Titel „One Cut of the Dead“ erzählte der Japaner Shin’chiro Ueada diese Geschichte bereits 2017 – und schwelgte dabei in angemessenem B-Film-Stil in einem schier uferlosen Verwirrspiel: Bald mischen sich echte Zombies unter die Darsteller, bis eine zweite Erzählebene beginnt. Hazanavicius ist sogar noch eine dritte eingefallen, doch das macht seinen Film auch nicht wirklich charmanter.

Hazanavicius strebt nach ausgelassener Albernheit

Seit seiner in Cannes gefeierten Hommage an den amerikanischen Stummfilm ist ihm kein weiterer großer Wurf gelungen. Es ist eine Hommage, die ihr Vorbild übertreffen will und es gerade auf diesem Weg verfehlt. Schon, dass hier europäische Filmemacher in Japan drehen müssen (um eine Vorgeschichte aus dem zweiten Weltkrieg zu bedienen) wirkt ungelenk. Alles, was er letztlich hinzufügt, ist eine manchmal wirklich ausgelassene Albernheit – doch die gab es im französischen Kino schon viel besser in den Zeiten von Louis de Funès und Pierre Richard. Pathos und Klamauk – extremere Pole lassen sich kaum finden für ein Filmfestival, das noch aus den Startlöchern finden muss.

Reizvoller war da schon der belgisch-italienische Wettbewerbsbeitrag „Le otto Montagne“ von Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen: Es ist die Geschichte einer Jungen-Freundschaft, erzählt über zwei Jahrzehnte: Ein Kind aus Turin entwickelt in sommerlichen Bergurlauben eine unerfüllte Ausbruchsfantasie, die ihn erst über den Umweg nach Tibet zu sich finden lässt. Felix van Groeningen verlängert diese schleppende Initiationsgeschichte durch ein Übermaß an wenig originellem Songmaterial: Was seinen Film „The Broken Circle“ auszeichnete, hilft seinem neuen Drama nicht über den Berg.