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Filmfestival CannesGrandiose Eröffnung mit Leos Carax und François Ozon

Lesezeit 4 Minuten

Das Ensemble des Films „Annette“ in Cannes.

Cannes – Stellen Sie sich vor, es ist wieder Kino und der Saal ist voll. Auch wenn bei der Eröffnungsgala in Cannes am Dienstagabend Maskenpflicht herrschte, war es doch fast ein Bild wie aus alten Tagen. Die Saalkameras konnten jedenfalls nicht genug bekommen von der Vogelperspektive auf das rappelvolle Auditorium. Den wahren Hingucker aber lieferte ihnen Leos Carax, der streitbare Maverick des französischen Autorenfilms, als die Lichter wieder angingen. Inmitten des stehend-applaudierenden Publikums gönnte er sich eine Zigarette, um sie dann lässig an Hauptdarsteller Adam Driver weiterzureichen.

Mit seinem Musical „Annette“ hatte er Programmchef Thierry Frémaux die wohl begehrteste Rarität im internationalen Festivalgeschäft beschert – den perfekten Eröffnungsfilm: Großes Kino in jedem Augenblick, trunken vom Erbe des alten Hollywood und seinem schwelgerischen Leinwandzauber. Aber zugleich allergisch gegen Zuckersoße: Die ungleiche Liebesgeschichte eines für seinen Sarkasmus gefeierten Komikers (Adam Driver) und einer etherisch-engelhaften Chanteuse (Marion Cotillard) schmeckt eher wie Schokolade, die man mit Pfeffer bestreut hat.

„Annette“ ist großes Kino in jedem Augenblick

Erzählt in originalen Songs der britischen Glam-Rock-Veteranen Sparks, kommt das Drama erst nach dem tragischen Tod der Heldin in Fahrt: Die gemeinsame Tochter erweist sich als Wunderbaby, in dem nicht nur das Gesangstalent, sondern auch der ruhelose Rachegeist der Mutter fortlebt. Dargestellt von Handpuppen und Marionetten, ist diese Figur ideal für Carax’ ebenso verführerischen wie stacheligen Anti-Naturalismus.

„Annette“ ist das Produkt jahrelanger Vorbereitung. Schon 1999 erzählte Carax vom Plan einer Hommage an King Vidors Stummfilm „Ein Mensch der Masse“, die erst jetzt tatsächlich in diesen Film eingewoben ist. Einen Liebesfilm wolle er machen, der erst nach dem Endetitel anfängt, wenn sich das Liebespaar gefunden hat. Damals fühlte sich Carax in seiner Heimat allerdings völlig unverstanden: „Je weiter man von zu Hause weggeht, desto geringer sind die falschen Erwartungen. Dort nimmt man die Filme als ein Rätsel, das man entschlüsseln muss. Im eigenen Land bezahlen die Leute und glauben, der Film gehöre nun ihnen. Sie erwarten, dass man Ihnen erklärt, mit welcher Art Wirklichkeit sie es bei ihnen zu tun haben, und das tun meine Filme nun einmal nicht. Deshalb glaube ich, gehen sie in Frankreich so schlecht.“ Dieser Triumph von Cannes war nun so etwas wie eine späte Aufnahme ins Allerheiligste der französischen Filmkultur.

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Umso fester mag sich ein anderer im Sattel der hiesigen Filmindustrie fühlen: Der 53-jährige François Ozon kann es an Produktivität mit seinem Idol Rainer Werner Fassbinder aufnehmen, immer leichtgängiger gelingen ihm gerade seine realistischen Stoffe. „Tout s’est bien passé“ wäre als verfilmte Fallstudie über selbstbestimmtes Sterben leicht zum Lehrstück verkommen. Stattdessen nähert sich Ozon den Erinnerungen der Tochter eines lebensmüden Mannes mit bezwingender Lebendigkeit. Sophie Marceau gelingt in der weiblichen Hauptrolle die vielleicht reifste Leistung ihrer Karriere.

Die Komplexität der Konflikte müsste ihre Rolle eigentlich bleischwer machen: Trotz einer traumatischen Kindheit stellt sie sich dem Sterbewunsch des Vaters erst entgegen, um ihn dann aus Liebe erfüllen zu wollen. Doch wie soll sie sich verhalten, als der Mann sein Leben wieder zu genießen scheint? Es ist ein kleiner Film, der kaum nach einer Goldenen Palme greift, aber alles, was er sich vornimmt, prächtig erfüllt.

Nadav Lapid bringt ein Zensurdrama aus Israel mit

Und noch eine dritte Sorte Kino, für die Cannes berühmt war, hat der erste Festivaltag zu bieten: Das agitative Politikdrama in der Tradition des frühen Godard. Der israelische Beitrag „Ha’Berech“ von Nadav Lapid ist eine messerscharfe Abrechnung mit der Realität politischer Zensur in der Kulturpolitik. Der bekannte Choreograph Avshalom Pollak spielt die Hauptrolle eines Regisseurs, der in einem israelischen Wüstenort einen Film zeigen soll. Vor Ort soll er eine Erklärung unterschreiben, dass dabei nur staatstragende Themen Erwähnung finden.

Lapid verarbeitet hier ein Erlebnis aus dem Jahr 2018; tatsächlich übte das Kulturministerium auf diese Weise Zensur aus. Der Gewinner des Goldenen Berlinale-Bären 2019 für „Synonymes“ inszeniert den eskalierenden Streit des Regisseurs mit der örtlichen Bibliotheksleiterin als verbalen Kriegsfilm, als Choreographie der Worte. Gleichermaßen konkret wie metaphorisch gelingt ihm dabei eine erstaunliche Allgemeingültigkeit: Ohne die Realität der politischen Situation in Israel aus den Augen zu verlieren, lässt sich sein Film auch auf die bedrohten Demokratien in Europa übertragen. Das einzig Versöhnliche daran ist der Abspann: Solange der israelische Film Fund ein derart kritisches Werk fördert, ist der Kampf noch nicht verloren.