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François-Xavier RothKölns GMD nimmt sechsköpfige Familie aus Ukraine auf

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François-Xavier Roth probt mit dem Bürgerorchester 

Köln – „Sollen wir nicht mehr Tschaikowsky spielen, weil Putin Krieg gegen die Ukraine führt?“ Gürzenich-Kapellmeister François-Xavier Roth will „eigentlich“ im Gespräch mit dieser Zeitung das Programm für die Saison 2022/23 vorstellen, sieht allerdings auch selbst, dass er, auch und gerade als Musiker, um ein Statement zu den aktuellen Ereignissen nicht herumkommt.

Weil das, was er zum Krieg selbst zu sagen hätte, das Erwartbare und daher, wie er kundtut, „total banal“ wäre, unterlässt er es, unterstreicht stattdessen die menschenverbindende Wirkung der Musik im Sinne eines „Friedensstatements ohne Worte“. Als solches sei sie heute wohl noch nötiger als in früheren Zeiten.

Und er warnt mit Blick auf Putin und die russische Kultur, Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben und „Aspekte zu vermischen, die nichts miteinander zu tun haben“. Mit seinem Pariser Orchester „Les Siècles“ hat er Musik des russischen Weltbürgers Strawinsky aufgenommen: „Wissen Sie eigentlich, dass der die Themen für «Petruschka» von einem Markt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew bekam?“

Als Mensch auf Krieg reagiert, nicht als Dirigent

Roth reagiert, wie er sagt, „als Mensch, nicht als Dirigent“ auf den Krieg: Er lässt in seinem Haus in Nordfrankreich eine sechsköpfige ukrainische Flüchtlingsfamilie wohnen. Wenn die Agenda der kommenden Spielzeit keinen direkten Kommentar zum Zeitgeschehen darstellt, dann ist dafür freilich in erster Linie der lange Planungsvorlauf verantwortlich. Sicher mag die Saisoneröffnung mit der zweimaligen Aufführung von Beethovens Neunter unter seiner Leitung „passen“ – von Haus aus hat sie mit der Ukraine nichts zu tun.

So oder so verbindet sich mit diesem Start Ende August eine neue Initiative. Sie heißt „Bürgerchor“ und verdankt sich der selben Philosophie wie das „Bürgerorchester“. Sangesfreudige Kölner können sich anmelden, dann wird ausgewählt, und Universitätsmusikdirektor Michael Ostrzyga studiert den Chorpart von Mai an ein.

Wunschzettel für Kölner Publikum

Publikumsfreundlich ist auch das „Wunschzettel“ betitelte Weihnachtskonzert am 18. Dezember: Aus einem vorgegebenen Set mit populärer Klassik von der Güte des Albinoni-Adagios kann das Publikum selbst bis Ende Oktober eine Auswahl treffen – und wiederum als „Bürgerchor“ bei Highlights wie dem Händel'schen „Halleluja“ mitsingen. Der Kapellmeister: „Endlich kann ich mal dirigieren, was ich niemals zu programmieren wagen würde.“

Schwerpunkte von Roths Agenda in 2022/23 sind die Fortsetzung seines Bruckner-Zyklus mit den Sinfonien 3, 5 und 6, die im Sinne von „Bruckner, der Moderne“ mit Ur- oder Erstaufführungen von Miroslav Srnka, Georg Friedrich Haas und Bernhard Gander kombiniert werden. Zum Bruckner-Jahr 2024 soll der Zyklus abgeschlossen sein. Auch in Sachen Schumann macht Roth weiter: Nach den Sinfonien kommt jetzt, im Januar-Konzert, das Oratorium „Das Paradies und die Peri“. Im Dom dirigiert der GMD Anfang September zu freiem Eintritt Mozarts Krönungsmesse.

Cembalist, der einst Publikumsskandal erregte, jetzt Artist in Residence

Artist in Residence in der kommenden Saison ist der Cembalist Mahan Esfahani, der weiland im Kölner Sonntagskonzert mit dem Vortrag eines minimalistischen Werks von Steve Reich einen veritablen Publikumsskandal erregte. Er wird auch diesmal in verschiedenen Konstellationen weniger als Barock-Spieler denn als „Cembalo-Moderner“ unterwegs sein – etwa mit dem Konzert von Bohuslav Martinu.

Unter den Gastdirigenten ist gleich zweimal Roths Vorgänger Markus Stenz zu begrüßen: Im November dirigiert er ein romantisches Programm mit Mendelssohns Violinkonzert (Solistin: Alina Ibragimova) und der einstündig-orchestralen „Ring“-Version des Niederländers Henk de Vlieger. Und im Oktober leitet er in Kooperation mit der Rheinischen Musikschule und den Roten Funken ein Jubiläumskonzert zum Thema „200 Jahre Kölner Karneval“.

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Weitere alte gute Bekannte sind Michael Sanderling (mit Dvorák, Beethoven und eben Martinu) und Pablo Heras-Casado (Mendelssohns zweites Klavierkonzert mit Kristian Bezuidenhout und Mahlers erste Sinfonie). Ehrendirigent Dmitri Kitajenko zieht wie gewohnt mit Rachmaninow und Schostakowitsch die russische Karte. Mit einem rein russischen (!) Programm (Tschaikowsky, Rachmaninow) wartet übrigens auch der Schweizer Lorenzo Viotti auf.

Sehe lassen kann sich die Riege der Debütanten: Joana Mallwitz kommt mit Bruch (erstes Violinkonzert mit Veronika Eberle und Respighis Römischer Trilogie), Sakari Oramo mit finnischer Agenda (Lindberg und Sibelius) sowie der komponierende Brite George Benjamin mit einem eigenen Werk und Ravels zweiter „Daphnis und Chloé“-Suite. Der als Geiger längst berühmte Emmanuel Tjeknavorian dirigiert im Januar-Benefizkonzert für die „Stadt-Anzeiger“-Aktion „Wir helfen“ den Donauwalzer, Kurt Weills Whitman-Songs (mit Thomas Hampson) und Dvoráks neunte Sinfonie.

Zahlreiche Sonder-Events ergänzen das Programm. Dazu gehören ein von Julien Chauvin geleitetes Passionskonzert mit Werken von Telemann, Bach und Pergolesi, in dem Mojca Erdmann das Sopransolo singt, und ein Abend mit Musik von György Ligeti am 28. Mai 2023 – er wäre an diesem Tag hundert Jahre alt geworden. Teils mit neuen Akzenten fortgesetzt wird die Tradition der Kammerkonzerte und des „Ohren auf“-Musikvermittlungsprogramms. Vier Abo-Konzerte mit Roth wird man auch als Livestream anbieten.