Anne Applebaum warnte bei der Verleihung des Deutschen Friedenspreises eindringlich vor Putin und der Achse der Autokratien.
Friedenspreis für Anne ApplebaumGibt es auch einen naiven Bellizismus?
Es scheint ein populärer Irrglaube zu sein, dass der Weg zum Deutschen Friedenspreis (und zum Frieden) nur über klassische pazifistische Positionen führt. Dabei gab es in der Geschichte der vom Börsenverein des deutschen Buchhandels verliehenen Auszeichnung einige Preisträger, die vor einem, wie sie es nannten, „naiven Pazifismus“ warnten.
Gleich mehrfach wurde jetzt bei der Preisverleihung an die amerikanisch-polnische Historikerin Anne Applebaum an den Schriftsteller Manès Sperber erinnert, der 1983, auf dem Höhepunkt der deutschen Friedensbewegung, für die atomare Aufrüstung eintrat. Applebaum schloss sich Sperbers Warnung vor der „falschen Moral“ eines unbedingten Friedenswillens an und zitierte zur Sicherheit noch Thomas Mann, der den Preis zwar nie erhielt, aber dennoch als moralische Instanz gelten kann. Angesichts der deutschen NS-Herrschaft prangerte Mann im Vorkriegsjahr 1938 einen Pazifismus an, der den Krieg herbeiführe, statt ihn zu verhindern.
Anne Applebaums Nominierung sei nicht „unumstritten“, so Karin Schmidt-Friderichs vom Börsenverein
Anne Applebaums Nominierung sei nicht „unumstritten“, wie Karin Schmidt-Friderichs, Vorständin des Börsenvereins in der Frankfurter Paulskirche sagte, weil Applebaum, die als Historikerin bedeutende Arbeiten zu den Verbrechen des Stalinismus verfasste, in ihrer Rolle als Journalistin eine strikte Kriegspolitik gegen Putins Russland vertritt. Auch in ihrer Preisrede betonte sie, die Ukraine würde nicht allein für die eigene Freiheit, sondern für die Zukunft der westlichen Demokratien (mindestens in Europa) kämpfen. Leider hätten im Westen, so Applebaum, viele nicht verstanden, dass in der Ukraine eine Art Entscheidungsschlacht zwischen der freien Welt und einer erstarkenden Achse der Autokratien stattfinde. Diese Schlacht dürfe nur einen Ausgang nehmen: eine militärische Niederlage Putins.
Schmidt-Friderichs erinnerte in ihrer Rede an die eigene Herkunft aus der Friedensbewegung und bekannte, dass die Bücher Anne Applebaums für sie einem Realitätsschock gleichgekommen seien. Sie lobte Applebaum dafür, dass sie uns helfe, „die Welt zu verstehen, wie sie ist“, und „unsere Ideale an der Realität“ auszurichten. Das sei schmerzhaft, aber notwendig. Und wie die Geschichte des Friedenspreises gezeigt habe, dürfe man sich durchaus an Äußerungen der Preisträger reiben.
Die Laudatio auf Applebaum hielt Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten und in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial. Sie erinnerte an die vielen westlichen Intellektuellen, die sich Illusionen über den Stalinismus hingegeben hätten (wie dies heute viele bei Putin täten), und argumentierte, der Stalinismus sei das Fundament von Putins Russland. Applebaum habe früh erkannt und gezeigt, dass sich der militante russische Staat von heute auf eine glorifizierte sowjetische Vergangenheit berufe. Der neue Putinismus sei „ein Kampf um die Vergangenheit gegen die Gegenwart“, so Scherbakowa.
Dieser Kampf ist, so Anne Applebaum in ihrer Dankesrede, mit der russischen Besetzung der Krim in eine neue Phase eingetreten. Putin habe alte Pläne entstaubt und wieder zum Leben erweckt; die stalinistische Besatzung Polens im Jahr 1944 sei die Blaupause für die Annexion der Halbinsel gewesen, und auch beim russischen Krieg gegen die Ukraine wiederholten sich „grausam vertraute Muster“. Zu diesen gehören für Applebaum auch solche, die man ansonsten dem NS-Staat zuordnet: die Entführung von Kindern, die Errichtung von „KZs“ oder die „Gleichschaltung“ eroberter Gebiete.
Applebaum zog in ihrer Rede mehr Parallelen zu Hitler-Deutschland als zum Stalinismus
Vielleicht war es dem deutschen Publikum geschuldet, dass Applebaum in ihrer Rede mehr Parallelen zu Hitler-Deutschland als zum Stalinismus zog. Sie zitierte aus einem Flugblatt der Weißen Rose, in dem der Krieg als Mittel beschrieben wird, die Tyrannenherrschaft zu festigen, und sah mit Carl von Ossietzky die Militarisierung einer Gesellschaft als Vorbereitung des Kriegs. Und sei der Krieg erst einmal „normal“, wie jetzt in Russland, so Applebaum, würden weitere Kriege wahrscheinlich.
Die Befürchtung, die Ukraine sei nur der Anfang von Putins Expansionsstreben, ist vor allem in Osteuropa weit verbreitet (die Preisträgerin lebt in Polen). Putins Krieg sei, sagte Applebaum, der Beginn einer Hobbes’schen Welt, die unsere Solidarität erfordere. In Deutschland müsse man sich daher von einem naiven Pazifismus verabschieden (der oftmals ohnehin nur ein versteckter Putinismus sei) und eine andere Lehre aus der Geschichte ziehen: Das freie Deutschland, so Applebaum, habe eine besondere Verantwortung, „sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen“.
Viele Positionen Applebaums sind mittlerweile in der deutschen Debatte mehrheitsfähig, weshalb sie als Trägerin des Friedenspreises vielleicht gar nicht so „umstritten“ wie behauptet ist. Sie skizziert eine im Grunde aus dem Kalten Krieg bekannte Konfliktlinie zwischen freier und autokratischer Welt, wobei die Demokratien bei ihr als das in die Defensive geratene Gute erscheinen.
Da war man während des Kalten Kriegs noch im realpolitischen Sinne ehrlicher. Auch die hochgerüsteten Demokratien von heute verfolgen schließlich konkrete Sicherheits- und Machtinteressen (man nehme etwa die Osterweiterung der Nato) und sind im Zweifel bereit, diese militärisch durchzusetzen. Man kann dies anlässlich einer Friedenspreisrede durchaus konstatieren, ohne sich Illusionen über Putins verbrecherische Kriege hinzugeben. Und auch diese Frage sei angesichts der Applebaum'schen Analysen erlaubt: Gibt es einen naiven Bellizismus?