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Fundsachen aus dem ArchivWarum es dieses Bob-Dylan-Buch unbedingt braucht

Lesezeit 4 Minuten
Bob Dylan bei einer Pressekonferenz im Jahr 1966

Bob Dylan bei einer Pressekonferenz im Jahr 1966

„Bob Dylan - Mixing Up the Medicine“ ist eine Attraktion für Newcomer und Ureinwohner im Dylan-Kosmos.

Marvin Karlins, Professor an University of South Florida im Fach Management, hat sein Leben lang Unterricht gegeben. Auch schon als er selbst noch Student war. Da leitete er Folkmusik-Kurse an der University of Minnesota. Einige Male hat auch Bob Dylan teilgenommen. Der Eindruck, den der Kursleiter vom gleichaltrigen Kommilitonen im Jahre 1960 gewann, war allerdings bescheiden: „In der kurzen Zeit, in der er mein Schüler gewesen war, hatte ich begriffen, dass Bob keine begnadete Stimme hatte und auch die Gitarre nicht gut beherrschte; aber wenn er motiviert genug war, um weiterzuspielen, wollte ich es ihm bestimmt nicht ausreden.“ Braver Mann, der Marvin Karlins.

Was aus einem werden kann, von dem man wenig erwartet hatte, lässt sich nun in funkelnder Vielfalt in dem Band „Bob Dylan – Mixing Up the Medicine“ entdecken. Ja, es ist richtig: Über den Musiker mit dem Legendenstatus und dem Literaturnobelpreis sind mittlerweile Trillionen von Büchern erschienen. Kaum mag man noch aufhorchen, wenn ein neuer Titel angekündigt wird. Ist doch eh schon alles ausgeleuchtet und durchgekaut. Und dann öffnet sich plötzlich eine neue Tür.

In diesem Falle handelt es sich um die Tür des Bob-Dylan-Archivs in dem 2022 eingeweihten Bob-Dylan-Center von Tulsa (Oklahoma). Tulsa? Das ist nicht die Mitte der Welt. Nicht einmal der USA. Und in Oklahoma ist Tulsa auch nur die zweitgrößte Stadt. Aber immerhin gibt es hier schon seit geraumer Zeit das Woody-Guthrie-Center, das eben jenen Folksänger („This Land is Your Land“) würdigt, der zu den geistigen Ziehvätern von Bob Dylan gehört.

Das Buch liefert nicht nur High-End-Informationen für den Kreis der Eingeweihten

Der Bestand des Bob-Dylan-Archivs ist überraschend üppig. Offensichtlich hat der Künstler selbst viel mehr aufbewahrt, als man hätte meinen mögen. Von wegen: „Don’t Look Back“. Andere Sammlungen kommen hinzu. Im Angebot: Nie zuvor gesehene Manuskripte, Fotos, Notizbücher, Filmstills aus Privatvideos, Plakatentwürfe. Vieles davon ist nun in „Mixing Up the Medicine“ zu sehen. Der Titel – ein Zitat aus Dylans „Subterranean Homesick Blues“ von 1965 – schmückt zugleich ein neues Best-Of-Album.

Das Schöne an dem Buch ist, dass es nicht nur High-End-Informationen für den Kreis der Eingeweihten liefert. Es tischt auch alle Basisfakten auf. Eine Attraktion für Newcomer und Ureinwohner im Dylan-Kosmos. Wer freilich glaubt, dass sich nun alle Nebel lichten würden, irrt erheblich. Nehmen wir nur den Motorradunfall mit der Triumph Tiger 100 im Jahre 1966: Viele Einzelheiten, bekennen die Herausgeber, „sind und bleiben rätselhaft“.

Der Band basiert auf der Eröffnungsschau in Tulsa. Er präsentiert nicht zuletzt Essays von Insidern, die sich jeweils mit einem „Lieblingsexponat“ befassen. Der Musikjournalist und Kurator Raymond Foye hat sich eines Textentwurfs zum Song „Dirge“ angenommen. Er gesteht: „Bei meinen Recherchen in Tulsa stellte ich häufig fest, dass meine langjährigen Interpretationen bestimmter Alben den Entwürfen und Fragmenten in den Notizbüchern diametral entgegengesetzt waren.“

Dylans Texte sind wie Hindu-Gottheiten mit zwanzig Armen
Schriftsteller Peter Carey

Eine ähnliche Erfahrung machte der australische Schriftsteller Peter Carey („Oscar und Lucinda“). Er suchte im Archiv nach einem „Schlüssel“ für den Song „Tweedle Dee & Tweedle Dum“. Vieles konnte er in den Text hineindeuten. „Ging es um Palästina und Israel? Al Gore und George Bush?“ Am Ende musste er konstatieren: „Es gab keinen Schlüssel, es gibt kein Schloss.“ Sein Resümee: „Dylans Texte sind wie Hindu-Gottheiten mit zwanzig Armen.“

Der Zweieinhalb-Kilo-Band liefert jede Menge Details rund um Dylan, die niemand kennen muss, aber viele begeistern werden. Dass der Künstler für The Band ein von Chagall inspiriertes Plattencover gemalt hat. Dass er Metallskulpturen zusammenschweißt („Ich war seit der Kindheit von Eisen umgeben.“). Dass ein silbernes Kruzifix, das 1978 auf die Bühne der „Golden Hall“ in San Diego geworfen wurde, am Anfang seiner religiösen Phase stand. Dass das wagenradgroße Tamburin von Bruce Langhorne den Song „Mr. Tambourine Man“ inspiriert hat. Und dass Marvin Karlins sich rückblickend wünschte, „dass ich sein musikalisches Genie erkannt hätte“.

Ein großartiges Buch. Großartig wegen seiner Fundstücke, großartig wegen der sorgfältigen Gestaltung. In allem spiegelt sich die begeisterte Spurensuche. Kurzum: Auch wer schon alle Bücher über Bob Dylan kennt, wird um diesen Band nicht herumkommen.

Mark Davidson und Parker Fishel (Hrsg.): „Bob Dylan - Mixing Up the Medicine“, dt. von Pieke Biermann, Harriet Fricke, Miriam Mandelkow, Brigitte Jakobeit, Hella Reese und Ulrike Strerath-Bolz, Droemer, 608 Seiten, 98 Euro.