Die Pop-Helden von heute sind die Pop-Helden von vor 40, 50, 60 Jahren. Ist das der Stillstand?
Madonna, Beatles, Rolling StonesWarum wir immer noch über diese Uralt-Acts reden
„Es gibt übrigens auch noch neue Musik!“, wagt endlich einer aus der Runde zu bemerken, nachdem wir in der Küche nun schon seit einer Stunde hingebungsvoll über die, na ja, neue Beatles-Single „Now and Then“ diskutiert haben. Mehr „now“, weniger „then“, der Einwurf ist durchaus berechtigt. Aber genau jetzt fordern eben die Beatles unsere gesamte, nerdige Aufmerksamkeit.
Ist das zu viel? Bekanntlich leben wir in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Beachtung ist ein knappes Gut und generiert Wert und Selbstwert. Die Zeit, die ich den Beatles widme, nehme ich anderen Künstlerinnen und Künstlern weg. Pop als Nullsummenspiel.
Wovon erzählten denn die einschlägigen Schlagzeilen der vergangenen Wochen? Die Rolling Stones bringen ein neues Album heraus; die Beatles veröffentlichen ihre letzte Single; Madonna geht auf große Tour. Ein Zukunftsreisender aus den 1970er oder 80er Jahren müsste zwingend vermuten, dass seine Zeitmaschine leider nicht funktioniert hat. Stecken wir etwa alle in längst vergangenen Jahrzehnten fest, wie das Wohnzimmer meiner Eltern?
Ist die Musikindustrie Schuld am Innovationsstau, weil sie weiß, dass das große Geld bei den CD-Box-Sets und 400-Euro-Tickets kaufenden Boomern zu holen ist, und nicht bei den Gelegenheits-Streamern jüngerer Generationen? Oder sind es die traditionellen Medien (ich schließe mich ausdrücklich mit ein), die schon wissen, wo sie ihr Publikum abholen müssen?
Die Kolumnistin Paula Irmschler hat mal eine sagenhaft komische Bewerbung für den Chefredakteursposten des „Rolling Stone“ geschrieben, in der sie eine Idealausgabe der Musikzeitschrift vorschlug, in der sich jeder Artikel mit Bob Dylan beschäftigt. Oder Bruce Springsteen. Oder Bob Dylans Einfluss auf Bruce Springsteen. Am Ende ist sogar hier noch die Jugend von heute Schuld: Die hat ja niemand gezwungen, Nirvana- und Pink-Floyd-T-Shirts zu tragen.
Dylan, Springsteen, Stones – war Musik früher wirklich besser?
Vielleicht ist es von allem ein bisschen was. Nur eine These wollen wir lieber aussparen, die Behauptung nämlich, früher wäre die Musik eben einfach besser gewesen, wobei früher wundersamerweise jeweils exakt mit den Jugend- und frühen Erwachsenenjahren dessen korrespondiert, der vom aktuellen Niedergang der populären Musik überzeugt ist. Sei es, weil alles, was heute gehört wird, schon mal da gewesen sei. Sei es, weil heutzutage nur noch irgendein Idiot irgendetwas auf seinem Laptop anklickt, während sich früher Eric Clapton die Fingerkuppen wund gegniedelt hat.
Es läuft auf eine simple Wahrheit hinaus: Menschen hängen nun mal an der Musik, die sie geprägt hat. Das ist nicht verwerflich. Das geht uns allen so. Aber es führt nicht zu objektiven Wahrheiten. Was dem einen sein Led Zeppelin ist, ist dem anderen seine Beyoncé. Außerdem: Nostalgie-Zyklen bestimmten immer schon das Popgeschehen. In den 1970ern verklärte man die Musik der 1950er, siehe Gruppen wie Sha Na Na oder Filme wie „Grease“. Heute zitieren Jungstars den Teen Pop der Jahrtausendwende wie Evangelikale die Heilige Schrift. Und dieselben Kritiker, die Britney Spears einst belächelten, schreiben jetzt nachdenkliche Essays über ihre Autobiografie. Was vor 20 Jahren die Landschaft bestimmte, wird heute als Kohle wieder ausgebuddelt und befeuert den nächsten Zyklus.
Was allerdings noch nicht die Hartnäckigkeit erklärt, mit der sich manche Acts jenseits aller Nostalgie-Zyklen in der Diskussion halten, von den Beatles bis hin zu Depeche Mode, der Band, in deren Namen in jeder mittelgroßen Stadt Deutschlands über Jahrzehnte hinweg eine wöchentliche Party veranstaltet wurde und wird.
Hält Nostalgie unsere Kultur davon ab, sich weiterzuentwickeln?
Das ist nicht normal. Stellen Sie sich vor, die Beatles wären 1964 in New York gelandet, aber das interessiert niemanden, weil gerade eine Neuaufnahme von John Philip Sousas „Stars and Stripes Forever“ erschienen ist. Stellen Sie sich vor, die Jugendlichen der Woodstock-Generation wären mit T-Shirts der Comedian Harmonists herumgelaufen.
Es gibt also eine Art von Nostalgie, die keine menschliche Grundkonstante ist, sondern etwas über das frühe 21. Jahrhundert aussagt. Diesen Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit hat der Kulturtheoretiker Simon Reynolds bereits vor zwölf Jahren in seinem Buch „Retromania: Pop Culture's Addiction To Its Own Past“ beschrieben. Nie zuvor, sagt Reynolds, habe es eine Gesellschaft gegeben, die derart besessen von den kulturellen Artefakten ihrer unmittelbaren Vergangenheit sei – und zugleich so leicht und umfangreich auf diese Vergangenheit zugreifen könne. „Hält die Nostalgie unsere Kultur davon ab, sich weiterzuentwickeln“, fragt Reynolds, „oder sind wir gerade deshalb nostalgisch, weil sich unsere Kultur nicht mehr weiterentwickelt und wir daher unweigerlich auf bedeutsamere und dynamischere Zeiten zurückblicken?“
Selbstredend hat sich unsere Kultur seit den Hochzeiten der Beatles und Rolling Stones oder Madonnas weiterentwickelt, und wenn der rebellische Funke der Popmusik inzwischen verglüht ist, liegt das nicht zuletzt daran, dass das Publikum heute sehr viel auf- und abgeklärter ist – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit einschließt – und zum Beispiel das Freiheitsversprechen der Rockmusik als das Marketingtool begreift, das es immer war.
Die meisten Menschen würden sich angesichts digitaler Umwälzungen und politischer Umbrüche heute wohl eher weniger Dynamik und mehr Stillstand wünschen. Was vielleicht noch am besten das beinahe schon verzweifelte Festhalten an „ewigen Werten“ wie den genannten Altstars erklärt.
Und Pop als „Musik zur Zeit“, wie es früher hieß? Ist gesund und munter und bedient sich noch immer schamlos aus dem Fundus der Vergangenheit. Aber von Retromanie kann keine Rede sein. Eher von der überfälligen Globalisierung des Pop: Man hört K-Pop und Reggaeton, Afropop und die wildesten Hybridisierungen, die vor dem Internet-Zeitalter völlig undenkbar gewesen wären. Jetzt ist nicht wie damals. Selbst wenn man 2023 in der Küche sitzt und immer noch über die Beatles redet, tut man es doch im Bewusstsein, Teil eines weltumspannenden Diskurses zu sein.