Genie und TyrannPhil Spector zu betrauern fällt schwer
- Der inhaftierte frühere US-Musikproduzent Phil Spector ist im Alter von 81 Jahren gestorben.
Los Angeles – So muss das Glück klingen, pulsierend, überschäumend, sich jeder Analyse widersetzend: „Be My Baby“, der erste Hit der New Yorker Girlgroup The Ronettes gilt bis heute als Paradebeispiel von Phil Spectors „Wall of Sound“.
Ein unangemessen martialischer Name, denn der Hörer fühlt sich von diesem Klang ja eher in höhere Sphären gehoben als an die Wand gedrückt. Gemeint hat der Produzent damit wohl die relative Undurchdringlichkeit der Instrumentierung: Hal Blaines Schlagzeugauftakt ist unüberhörbar und oft kopiert worden, auch lassen sich die unisono spielenden Streicher, die die Strophe wiederholen, leicht identifizieren.
Aber ansonsten ist es nahezu unmöglich zu sagen, aus welchen Quellen sich die gewaltig anbrandende Begleitung speist, gegen die Ronnie Spector mit dringlicher Mühe ansingt.
Wie eine lärmende Armee
Das soll auch so sein, Phil Spector verstößt mit voller Absicht gegen das erste Gebot der Aufnahmetechnik: Statt die einzelnen Instrumente im Klangbild zu isolieren, sei es von vorneherein durch das Arrangement, oder durch die Verteilung und Mikrofonierung der Musiker im Studio, erzeugt er ein großes Mischmasch, indem er Instrumente doppelt, drei- und vierfach besetzt und sie sich durch massiven Halleinsatz überlagern lässt. Das klingt, als hätte er eine lärmende Armee in einer riesigen Höhle gefangen.
Ronnie Spectors Leadstimme erreicht uns dagegen aus einem völlig anderen Raum, sie könnte genauso gut neben uns auf dem Bett im Jugendzimmer sitzen, dort ihren geheimsten Gefühlen freien Lauf lassen, während die Musik dazu an- und abschwillt wie ihr in Wallung geratenes Blut.
Das könnte Sie auch interessieren:
Bevor Phil Spector das Aufnahmestudio als eigenständiges Instrument entdeckte, das es ihm erlaubte, direkte Eingriffe am offenen Teenager-Herzen vorzunehmen, bemühten sich Produzenten vor allem darum, dort den Live-Klang möglichst perfekt nachzuahmen: Insofern konnten Schallplatten und Tonbänder nie mehr sein als Dokumente zweiter Ordnung.
Man kann also ohne große Übertreibung sagen, dass die Geschichte der modernen Popmusik und ihrer Freuden mit diesem innerlich zerquälten, mal megalomanischen, mal paranoiden Kind jüdischer Einwanderer aus der Bronx beginnt.
Der Anti-Adorno
Mit quasi-wagnerianischen Singles wie „Da Doo Ron Ron“, „You’ve Lost That Lovin’ Feelin’“ oder „River Deep Mountain High“ hat Spector Adornos „Typen musikalischen Verhaltens“ gewissermaßen auf den Kopf gestellt: Kompositionstechnik und analytisches Hören führen hier nicht weiter, Emotion ist der Schlüssel zum Verständnis, ihre Erzeugung aber wiederum fällt beinahe ins Gebiet des Ingenieurwesens, in dem Adorno antimusikalische Hörer vermutete.
Spectors Einfluss kann man mühelos nachverfolgen, von den Beach Boys – Brian Wilson vergötterte ihn – und Beatles – John Lennon und George Harrison überließen ihm die Produktion des „Let it Be“-Albums und ihrer ersten Soloalben –, über Bruce Springsteens „Born to Run“ und Abbas „Dancing Queen“, bis zum überlauten Shoegaze-Klangbad von My Bloody Valentine.
Ein schrecklicher Mensch
Leider war der Mann hinter dieser kulturellen Revolution ein todunglücklicher, schrecklicher Mensch, der seine Frauen und seine Kinder als Gefangene hielt, sie psychologischen und körperlichen Qualen aussetzte, der auch im Studio, dem angeblich einzigen Ort, an dem er gesellschaftlich funktionierte, mit Handfeuerwaffen herumfuchtelte, vor John Lennon ein Loch in die Decke des Kontrollraums schoss, Leonard Cohen eine Pistole an die Kehle setzte, und selbst die abgebrühten Punkrocker The Ramones als Geiseln hielt.
Als Spector im Februar 2003 die Schauspielerin Lana Clarkson erschoss, die er erst in derselben Nacht in einem Club in Los Angeles kennengelernt hatte, war niemand, der ihn kannte, wirklich geschockt. Am 16. Januar ist Phil Spector in der kalifornischen Justizvollzugsanstalt, in der er wegen Totschlags einsaß, an den Folgen von Covid-19 gestorben. Er war 81 Jahre alt.
Letztlich konnte es Spector wohl nur in einer Zeit, in der missbräuchliche Verhaltensweisen als Ausweis künstlerischen Genies toleriert wurden, zu Ruhm und Ehre bringen. Um ihn zu trauern, fällt schwer. Das ändert nichts an seinen künstlerischen Leistungen, die Uffizien hängen ja auch nicht die Gemälde des Mörders Caravaggio ab.