Caroline Darian hat ein Buch über das Verbrechen ihres Vaters geschrieben, das erschütternde Einblicke in eine zerstörte Familie gewährt.
Gisèle Pelicots Tochter Caroline DarianKind des Opfers, Kind des Täters
Wie erklärt man seinem sechs Jahre alten Sohn, dass er seinen geliebten Großvater nie wieder sehen wird? Und zwar nicht, weil dieser gestorben ist, sondern weil er für ein ungeheuerliches Verbrechen im Gefängnis sitzt, das jede Chance auf eine Brücke zum Davor unmöglich macht.
Caroline Darian stand im Winter 2020 vor dieser Aufgabe. Am 11. November setzt sie sich mit ihrem Sohn Tom auf das Sofa im Wohnzimmer. „Du hast vielleicht mitbekommen, dass ich wegen Opa traurig bin. Ich werde alles tun, damit es mir besser geht. Aber die Sache ist, Tom, dass dein Opi etwas sehr Schlimmes gemacht hat. Er hat gelogen und deiner Omi wehgetan.“ Das Kind kann nicht verstehen, was der geliebte Großvater getan haben soll. „Aber Mami, ich habe noch nie gesehen, dass der Opi der Omi was Böses getan hat, und auch sonst niemandem!“ Wie erklärt man einem Sechsjährigen, was nicht zu erklären ist?
Es ist ein monströses Verbrechen
Bis dahin sei ihr Leben banal gewesen, schreibt sie in ihrem Buch „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“, das jetzt im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist (224 Seiten, dt. von Michael Meßner und Grit Weirauch, 22 Euro). Die damals 42-Jährige lebt mit Mann und Kind ein schönes Leben - guter Job, schönes Ferienhaus, ein enges Verhältnis zur Familie. Doch dann erfährt sie, dass ihr Vater Dominique Pelicot ihre Mutter Gisèle über viele Jahre mit Medikamenten betäubte, um sie dann zu vergewaltigen.
Außerdem lud er Männer über ein Internetportal ein, ihr ebenfalls Gewalt anzutun. Diese Übergriffe filmte er. Rund 70 Männer vergingen sich an der wehrlosen Frau, oft mehrfach. Es ist ein monströses Verbrechen. Der Prozess, der im Dezember 2024 zu Ende ging, sorgte weltweit für Aufsehen. Besonders, weil Gisèle Pelicot wollte, dass das Verfahren öffentlich geführt wird. Die Scham müsse die Seite wechseln, sagte sie. Ihr Ex-Mann muss für 20 Jahre ins Gefängnis, auch die mitangeklagten Männer wurden verurteilt.
Davor liegen für die Familie vier traumatische Jahre. Am 2. November 2020 zerspringt Caroline Darians Leben in tausende Scherben, ob sie sich jemals kitten lassen, ist ungewiss. Die Backofenuhr zeigt 20.25 Uhr, als ihre Mutter sie telefonisch über die Vorwürfe gegen ihren Vater informiert. „Ich heiße Caroline Darian und erlebe gerade die letzten Sekunden eines normalen Lebens“, schreibt sie.
Mit dieser Prognose soll sie recht behalten. Ihr Leben, wie sie es kannte, gibt es nicht mehr. Sie schreit, weint, beschimpft den Vater, will alles kurz und klein schlagen. Es ist der Anfang eines langen Albtraums, aus dem die Familie vermutlich nie ganz erwachen kann.
Caroline Darian muss ertragen, Kind des Opfers und des Täters zugleich zu sein. In ihren an ein Tagebuch angelehnten Aufzeichnungen finden sich immer wieder Passagen mit Erinnerungen an glückliche Kindheitserlebnisse mit dem einst geliebten Vater, etwa an die Fahrt in die Ferien: „Du reißt Witze, machst Barry White nach und nickst im Takt, du singst den Refrain mit und bist genauso aufgedreht wie wir Kinder, die wir eng zusammengequetscht auf der Rückbank sitzen. Dieses glückliche Bild zerspringt gerade.“ Alles erscheint ihr nun wie eine Lüge.
Hat er auch die eigene Tochter vergewaltigt?
Sie glaubte, ihre Eltern seien - trotz finanzieller Probleme und einer zwischenzeitlichen Scheidung - glücklich miteinander. Sie war gern mit ihrer Familie bei den Eltern in ihrem hübschen Haus auf dem Land, in das sie nach der Pensionierung gezogen waren. Nun halten es weder Gisèle, noch Caroline oder ihre Brüder Florian und David länger dort aus. Innerhalb weniger Tage räumen sie alles aus, verkaufen, verschenken oder vernichten die meisten Erinnerungen an das gemeinsame Leben mit Dominique.
Es sind aber nicht nur die Verbrechen, die der Mutter angetan wurden, die Caroline quälen und die dazu führen, dass sie zusammenbricht und in eine psychiatrische Notaufnahme gehen muss. Denn die Polizisten zeigen ihr auch zwei Fotos, die ihr Vater gemacht hat. Sie zeigen eine junge Frau, die schlafend auf dem Bett liegt, bekleidet mit einer weißen Schlafanzugjacke und einer beigefarbenen Unterhose. Ihren Hintern sieht man in Großaufnahme. Sie erkennt die Frau nächst nicht.
Der Polizist weist sie einen braunen Fleck auf ihrer Wange hin - einen ebensolchen hat auch sie. „Ich schaue mir die beiden Fotos noch einmal an. Und dann macht es klick. Ein Prickeln läuft durch meinen Körper, ich sehe Sternchen, Flecken hindern mich, klar zu sehen, es brummt in meinen Ohren. Ich falle nach hinten.“ Ihr Vater hat sie fotografiert. Sie ist überzeugt, dass er auch sie betäubt hat, sie kann sich nicht an diese Wäsche erinnern, schlafe so nicht. Hat er sie auch vergewaltigt? Der Vater streitet das ab. Aber was kann man diesem Mann, der jahrelang alle belog, glauben?
Caroline Darian quält diese Frage unaufhörlich. Und dann erlebt sie eine weitere große Verletzung. Ihre Mutter will nicht einmal darüber reden, was ihr Ex-Mann der Tochter angetan haben könnte. Sie bemühe sich, mildernde Umstände für ihn zu finden, schreibt Darian. Sie packt ihm eine Tasche mit warmer Kleidung, sorgt sich, wie es ihm im Gefängnis geht. Die Mutter-Tochter-Beziehung wird immer angespannter. „Sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass auch ich ein Opfer gewesen sein könnte. Für sie ist das undenkbar, und ich verstehe sie. Aber zugleich mache ich ihr Vorwürfe, dass sie nicht bereit ist, meine Zweifel anzuerkennen und meine Wut und meinen Schmerz zu hören.“
Dominique Pelicot schreibt unerträgliche, selbstmitleidige Briefe voller Pathos aus dem Gefängnis. Carolines Wut steigern sie nur noch. Ihre Mutter wählt laut ihrer Tochter einen anderen Weg. „Du vergisst, dass er nicht immer dieser Teufel war, als den du ihn darstellst. Er hat viel für dich getan, aber auch für deine Brüder. Ich war glücklich mit ihm. Ich habe ihn so sehr geliebt. Ich möchte lieber die guten Momente in Erinnerung behalten“, sagt sie. Die Tochter kann verstehen, dass ihre Mutter sich selbst zu schützen versucht. Verletzt ist sie dennoch - und sehr, sehr wütend.
Man erahnt, wie viel Kraft es die (Rest-)Familie gekostet haben muss, nicht an diesem Konflikt zu zerbrechen, gemeinsam und geschlossen vor Gericht aufzutreten. Es ist Caroline Darians großes Verdienst, dass sie offen und schonungslos schildert, welche Schneise der Verwüstung ein solches Verbrechen hinterlässt. In ihrem Schlusswort dankt sie „meiner Mama, die ich über alles liebe“. Es gibt viel Hass in dieser Geschichte, aber am Ende steht dann doch die Liebe.