AboAbonnieren

Großartiges Tanzgastspiel im SchauspielhausAlles andere als ein Schlaflied

Lesezeit 5 Minuten
Mama / 
Until We Sleep
Botis Seva / Far from the Norm

Mama / Until We Sleep Botis Seva / Far from the Norm

Im Depot 1 des Schauspiels Köln zeigte der Londoner Choreograph Botis Seva mit seiner Gruppe Far from the Norm zweimal „Until we sleep“.

In diesem Stück ist selten Ruhe. Der Titel „Bis wir schlafen“ meint vielleicht, dass man vorher auf der Hut sein müsse. Wer schläft, braucht Sicherheit. Man will ja lebend wieder aufwachen. Es gibt diesen einen ruhigen Moment, der nicht still ist, sondern Besonnenheit meint, ein Wachen, Aufwachen, Erkennen: Kurz vorm Ende, als die Kämpfe, das Lauern und Flüchten vorbei sind, steht Victoria Shulungu wieder allein auf der Bühne in ihrem Lichtkreis. Zum zweiten Mal erst ist ihr Gesicht zu erkennen. Die Arme hängen. Sie schaut, sie horcht. Vögel in einem heißen Wald, hierzulande unbekannte Stimmen. Wie sie dem Gesang zuhört, wird sie eins mit den Bäumen und diesen Tieren. Ein Moment des Zaubers, Lebenszaubers.

Oder des Todes. Sie hebt die Schultern, wie sie es vorher schon häufig tat, um dann in vorwärtsdrängende Aktion zu geraten. Aber diesmal schweben die Arme weich auf und ab als Vogelschwingen. Sie verwandelt sich, bevor die Dunkelheit sie verschluckt und Applaus beginnt und verebbt, weil das Stück doch noch nicht zuende ist. Eine friedliche Jazzimprovisation von Klavier und Saxofon spielt absteigende Töne vor sich hin, während im Hintergrund unendlich viele Sternschnuppen rieseln. Zum Glück keine Schäfchen.

Choreograf Botis Seva verweigert ein übliches Ende

Der Choreograf Botis Seva verweigert ein übliches Ende. Wie beim Übertritt von Wachen zum Schlafen geht es in „Until we sleep“, das Ende Februar beim Schrittmacher-Festival in Kerkrade Premiere feierte, um Grenzen. Manche hier trennen, sind dicht, andere durchlässig, wo Gefährliches hindurchkriecht. Eine stellt jeweils für Sekunden ein Fenster in eine andere, vermutlich göttliche Welt dar. Von drüben schaut ein schwarz gefiedertes Wesen her.

Das alles erschafft das Licht im Nebel, LED-Lichtlein in Stangenform, in einer Reihe nebeneinander, leicht nach vorn geneigt. Zunächst erinnert es an ein Zelt oder alte Darstellungen der flachen Welt mit einer Kuppel drüber, später an Käfig. Die „Stangen“ sind Linien oder wandernde Punkte oder zeigen Sterne oder wirken wie Schlitze zu einer mal saftiggrünen, mal brennenden Außenwelt. Tom Vissers Werk ist höchste Kunst des Lichtdesigns.

Eine raffinierte Choreografie des Halb-Sichtbaren

Wozu dem Kritiker des englischen Guardian nur der Begriff „murkily atmospheric“ (atmosphärisch düster) einfiel, ist eine raffinierte Choreografie des Halb-Sichtbaren, passend zur Nacht, zum Schlaf, auch zur Erinnerung, die teils bewusst, gewusst, teils erträumt sein kann. Die Dunkelheit beschützt und bedroht die sechs Schwarzen Tänzerinnen und Tänzer und die eine Hellhäutige in schwarzen Kostümen und verwischt fast die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen. Deren fusselig plusternde Jacken und Hosen sind halb Kampfkleidung, halb Fell oder Federn.

Es ist eine verschreckte Gemeinschaft. Sie tanzt mit superschnellen kleinen, lautlosen Schritten. Die Oberkörper meist vorgebeugt, die Knie nie gestreckt. Die Arme holen etwas von außen zum Körper hin, schützen eher, recken Ellbogen, als dass sie austeilen oder sich ausbreiten. Zuweilen nicken die Köpfe schnell und ziehen die dranhängenden Körper vorwärts oder im Kreis. Furcht scheint diese nervöse Virtuosität zu speisen, das Huschen, Ducken, Stieben, an anderer Stelle die Freude über Freiheit mit Sprüngen und Drehungen, stets befeuert durch den Beat der zugespielten Musik von Torben Sylvest, die mit einem gepfiffenen Vogellied begann und mit donnernden Schüssen und metallischem Schneiden Gefahren darstellt. Bis die Tänzer imaginäre Bogen und Gewehre anlegen und schließlich jemand mit einer wirklichen Waffe erscheint: das Böse, mit Echsen-Kappe, das den Kampf gewinnt und die Vogelfrau erschießt.

Ein Tanz der Zukunft

Das alles spielt sich in ihrem Kopf ab. Shulungu ist auf der Bühne die Chefin. Sie atmet ein, Schultern hoch, und scheucht die Gruppe über den Platz, die schwarmartig von hier nach da eilt, sich zerteilt oder einen Kreis um sie formt. Eine Art Schutzengel, ein guter, koboldiger Geist, wacht in ihrem Rücken, kniet vor ihr, hält sie, bis sie ihn wegschubst. Ihre Geschichte ist die des Nichtaufgebens. Sie lässt sich als Referenz an koloniale Gewalt und Sklavenjagd lesen oder an Kriege und Flucht oder als Story einer Psyche, die sich mit Imagination wappnet gegen das Zerbrechen und Kraft schöpft.

Hanna Koller, die Kuratorin der Gastspielreihe Tanz Köln an den Städtischen Bühnen, wurde auf Botis Seva aufmerksam, als er 2022 den Chanel-Award gewann, wie auch die in Köln gut bekannte Regisseurin Marie Schleef. Als sich Koller ein Stück in London ansah, packte sie die Energie in dem Theater, gefüllt mit jungen Leuten bis Mitte dreißig, fast nur People of Colour, erzählt sie. So stieg Tanz Köln als Koproduzent mit ein für Sevas neue Kreation. Der Choreograf, schon mehrfach preisgekrönt, wurde 1991 in einem Industrievorort im Süden Londons geboren, wuchs in einer kongolesischen Familie auf und entdeckte als Jugendlicher in einem Jugendzentrum HipHop und Rap für sich. Schon nach dem College-Abschluss 2009 gründete er Far From the Norm, um mit solchem Urban Dance für Theaterbühnen zu experimentieren. Er kombiniert mithilfe seiner tollen Tänzer mehrere Stile und Traditionen, ohne auf Show-Tricks zu setzen. Wow, ein Tanz der Zukunft.


Das nächste Tanzgastspiel an den Städtischen Bühnen: am 16. und 17. Mai das Nederlands Dans Theater im Staatenhaus mit Werken von Crystal Pite, Ohad Naharin und Nadav Zelner: „Ten Duets on a Theme of Rescue, Minus 16, Bedtime Story“