Das Gürzenich-Orchester würdigte den Jahrhundertkomponisten Arnold Schönberg.
Gürzenich-OrchesterSchockmomente und andere Ausbrüche
Fast genau auf den Tag des 150. Geburtstags von Arnold Schönberg präsentierte das Gürzenich-Orchester unter Leitung von Matthias Pintscher drei ausgewählte Werke aus dem überaus facettenreichen Œuvre des Jahrhundertkomponisten. Neben den Schaffensphasen Spätromantik, freie Atonalität und Neoklassik fehlte jedoch ausgerechnet die „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Töne“ – vulgo „Zwölftontechnik“ –, mit welcher der Wiener Modernist die Musik des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.
Schönbergs „Fünf Orchesterstücke“ von 1909 sind ein Fanal der neuen Musik. Die kurzen Stücke bringen wie ein Psychogramm eben jenes gespaltene Ich zum Ausdruck, das damals Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse in die widerstreitenden Pole von Über-Ich und Es bzw. Bewusstsein und Unterbewusstsein zerlegte. Wie Schockmomente oder unwillkürlich hervorbrechende Affekte gibt es im ersten Satz „Vorgefühle“ grell auffahrend Gesten, die ebenso plötzlich wieder in den tiefsten Registern von Kontrafagott und Bassposaune verebben, bevor es zu wieder andern Ausbrüchen kommt. Die von nervösen Pulsationen durchfieberte Musik kulminiert in einem Marsch, für den Gustav Mahler Pate gestanden hat. Doch während dessen Sinfonik stets einen siegreichen oder scheiternden Helden verkörpert, kennt Schönbergs Expressionismus nur noch ein von Widersprüchen zerrissenes Subjekt. Dirigent und Orchester zeichneten alle seelischen Extreme und feinsten Erschütterungen wie ein hochempfindlicher Seismograph, mit packender Tempo- und Farbgestaltung.
Arnold Schönberg: Musik wie ein Psychogramm
Dem avantgardistischen Aufbruch in die Atonalität gab Schönberg mit der Zwölftontechnik ab 1922 eine neue Systematik. Zugleich blieb er zeit seines Lebens ein „konservativer Revolutionär“, als den ihn sein Biograf Willi Reich charakterisierte. Denn statt mit dem romantischen Ausdruckswillen zu brechen, übersteigert er diesen lediglich. Und in den 1930er Jahren wandte er sich eben jenem Neoklassizismus zu, den er zuvor bei Strawinsky so sehr verachtet hatte. Im Auftrag des Quartetts seines Schwagers Rudolf Kolisch bearbeitete er 1933 auf der Flucht aus Nazi-Deutschland ein Concerto grosso von Händel zum „Konzert für Streichquartett und Orchester B-Dur“ mit teils erweiterter Harmonik und neu hinzukomponierten Passagen. Während das Pariser Quatuor Diotima die polyphon konzertierenden Solopartien mit luzidem Schwung gestaltete, wirkten die teils pompös auftrumpfenden Tuttis schleppend und bräsig, nicht unähnlich den reißerischen Bach-Arrangements des damaligen amerikanischen Stardirigenten Leopold Stokowski.
Was Schönberg in seiner freitonalen Phase zu hochkomplexen Miniaturen komprimierte, breitete er während junger Jahre in „Pelleas und Melisande“ von 1903 noch als vierzigminütige Sinfonische Dichtung mit monumentaler Orchesterbesetzung, einschließlich acht Hörnern und vier Harfen aus. Der spätere Avantgardist steht hier noch unverkennbar unter dem Einfluss von Wagners „Tristan“ und „Parsifal“ sowie von Richard Strauss. Prägnante Leitmotive, schwelgerische Steigerungen, katastrophische Aus- und Einbrüche schildern ungemein farbig instrumentiert die fatale Dreieckstragödie von Maurice Maeterlincks Drama mit Liebe, Eifersucht, Brudermord und finalem Liebestod. Großer Applaus für eine großartige Aufführung.