Der frühere Verleger des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, erklärt, warum Bölls 1974 erschienene Erzählung bis heute bedeutend und umstritten ist.
Heinrich Böll„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Literatur und Agitation
Herr Malchow, was macht den Reiz von Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ heute – 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung – aus?
Bei Büchern von hoher literarischer Qualität stellt sich mit größer werdendem Abstand zur Entstehungszeit verstärkt die Frage: Wie aktuell ist das Thema heute noch? Und da habe ich beim Wiederlesen festgestellt: „Katharina Blum“ ist sehr gut gealtert.
Inwiefern?
Die gewalttätige Übergriffigkeit von Medien auf die Privatsphäre – in Bölls Erzählung durchexerziert anhand der übermächtigen „Bild“-Zeitung – hat im Zeitalter der Digitalisierung und der sozialen Medien in einem Maße zugenommen, wie das in den 1970er Jahren technisch noch unvorstellbar war. Die Mechanismen sind die gleichen wie damals, und die hat Böll sehr präzise beschrieben, so dass man durch die Lektüre seines Buchs Gemeinsamkeiten und Unterschiede neu entdecken kann.
Vor 50 Jahren sagten Kritiker, das Buch sei weniger Literatur als politische Streitschrift.
Böll selbst hat sein Buch als „Pamphlet“ ein bisschen kleingeredet, als eine Waffe, mit der er sich im gesellschaftspolitischen Kampf zur Wehr gesetzt habe – unter anderem gegen Verdächtigungen als RAF-Unterstützer, die sogar zu einer polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung führten. Beim nochmaligen Lesen heute stellt man aber fest, dass Bölls Selbstauskunft über sein Buch auch eine Koketterie war. Er wollte damit verhindern, dass die literarische Qualität seines Buchs der – zweifellos beabsichtigten – politischen Wirkung im Wege stünde.
Es ging Böll aber um beides?
Als Geschichte einer Verzweiflungstat, die einen Menschen unter dem Druck böser Mächte unschuldig schuldig werden lässt, hat Katharina Blum etwas Allgemeingültiges, Universelles. Das ist das literarische Moment. Daneben ist es eine schriftstellerische Intervention in einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Konstellation der Bundesrepublik in den 1970er Jahren. Das ist das agitatorische Moment.
Worin besteht die literarische Qualität?
In der Logik des Plots, der Genauigkeit in der Beschreibung von Situationen und Figuren, zudem in Bölls sarkastischem und zugleich coolem Tonfall als Erzähler, der auch nach 50 Jahren nicht die Spur verwittert oder peinlich ist. Das Literarische und das Agitatorische sind so miteinander verwoben, dass sie ein untrennbares Ganzes bilden – und das in der Form einer klassischen, mustergültigen Novelle mit einer unerhörten Begebenheit, einer spannenden Handlungsführung, die auf einen explosiven Punkt zuläuft, und einer plötzlichen Wendung. Wie Böll das macht, das ist schon genial. Das Werk eines Nobelpreisträgers eben.
Die Buchausgaben enthalten heute ein Nachwort, das Böll 1984 hinzugefügt hat. Sie waren daran direkt beteiligt.
Das fiel in die Zeit, als Bölls Verlag Kiepenheuer & Witsch begann, selbst Taschenbücher herauszugeben. Ich sollte mir als junger Lektor überlegen, mit welchen Titeln wir an den Start gehen könnten. Und da es die „Katharina Blum“ als Taschenbuch für den Schulunterricht bereits gab, dachte ich, ein aktuelles Nachwort des Autors in unserer Ausgabe könnte einen zusätzlichen eigenen Wert darstellen. Also fragte ich Böll, ob er nicht darüber schreiben könne, was wohl mit seiner Titelheldin zehn Jahre nach ihrem Mord an dem Boulevard-Journalisten Tötges und ihrer Entlassung aus dem Gefängnis passieren würde. Böll hat dieser Bitte entsprochen und zugleich noch etwas Grundsätzliches zum Verhältnis Streitschrift versus Literatur beigesteuert.
In dem Nachwort wehrte Böll sich auch vehement gegen den Vorwurf, sein Buch sei ein Beitrag zur damals hochbrisanten Debatte über den Terror der „Rote Armee Fraktion“ (RAF). War es das wirklich nicht?
Nein, nein, war es nicht. Umso kurioser, dass diese Lesart die Zeiten anscheinend unverändert überdauert hat. Wenn ich heute Bölls Buch lobe, kommen dieselben Reaktionen wie vor 50 Jahren.
Und zwar?
„Wie können Sie dieses kitschige Machwerk eines RAF-Sympathisanten noch im Nachhinein rechtfertigen?“ Allein dieser Frage wird eben jene Mentalität sichtbar, gegen die Böll damals angeschrieben hat. Dass nämlich allen, die sich in der aufgeheizten Atmosphäre Mitte der 1970er Jahre gegen die Sympathisanten-Hetze der Konservativen in Politik und Medien wandten, selbst zu Sympathisanten erklärt wurden.
Was sagt Ihnen das?
Hier wirkt der offenbar unausrottbare Mechanismus, Kritiker eines gesellschaftlichen Missstands nicht etwa als Debattenteilnehmer zu würdigen, sondern als Nestbeschmutzer zu diskreditieren, die mit dem Bösen im Bunde seien. Dafür werden dann Zusammenhänge konstruiert, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Wer – wie Böll – vor Überreaktionen des Staates und der Gesellschaft auf den Terror der RAF warnte, solidarisierte sich deswegen ja nicht automatisch mit den Terroristen und ihren Verbrechen. Ähnliche Fehlschlüsse erleben wir bis heute, etwa in der Migrationsdebatte. Wer darauf besteht, dass der Terroranschlag von Solingen seinen Grund nicht in der Aufnahme vieler Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan hat, ist deswegen nicht gleich blind für die Bedrohung durch islamistischen Terror. Aber diesen Vorwurf gibt es. Dagegen wäre nur mit der Kraft der Vernunft anzukommen. Nur ist Vernunft in der politischen Auseinandersetzung nicht immer der Gradmesser, zu Bölls Zeiten ebenso wenig wie heute.
Zur Person
Helge Malchow, geb. 1950, war von 2002 bis 2018 Leiter des Verlags Kiepenheuer & Witsch (KiWi), in dem die Schriften des Kölner Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917 bis 1985) erschienen sind. Malchow begann 1983 als Volontär bei KiWi und wurde im selben Jahr Lektor für die KiWi-Taschenbuchreihe. Heute ist er als Editor in large für den Verlag tätig.
Diskussion frank&frei:
Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: Über Wirkung und Aktualität des Erfolgsromans spricht DuMont-Chefkorrespondent Joachim Frank bei „frank&frei“, der Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Karl-Rahner-Akademie, mit der Journalistin und Publizistin Christiane Florin (Abteilungsleiterin Kultur aktuell der Deutschlandradio-Programme) und ihrem Kollegen Professor Frank Überall (Chefreporter im journalistischen Digitalverlag KiVVON), von 2015 bis 2023 Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV).
Montag, 30. September, 20 Uhr. Jabachstraße 4-8, 50676 Köln. Eintritt: 10 Euro (ermäßigt und mit KStA-ABOCARD 5 Euro). Anmeldung: Telefon 0221/801078-0 oder hier per E-Mail (info@karl-rahner-akademie.de).