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Heinrich Böll im Schauspiel Köln„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist ein Triumph

Lesezeit 5 Minuten
Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ im Depot 1 des Kölner Schauspiels, Regie: Bastian. Vorne im Bild:Rebecca Lindauer.

Szene aus „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ im Schauspiel Köln

Regisseur Bastian Kraft hat seine Adaption der berühmten Böll-Erzählung rein weiblich besetzt. Unsere Kritik.

Die Objektivität trägt Oberlippenbart. Lola Klamroth, Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg betreten die Bühne, schlagen Aktenordner auf, justieren eine Kamera, die Unterlagen und Beweisstücke in Draufsicht filmt und auf drei große Leinwände überträgt, die hochkant hinter ihnen stehen (Bühne: Nadin Schumacher). Die Schauspielerinnen tragen Kurzhaarperücke, grauen Anzug und aufgeklebten Schnurres. Sie berichten vom Fall Katharina Blum, nach Vernehmungs- und Gedächtnisprotokollen, in größtmöglicher Nüchternheit den Tatsachen folgend.

Der fiktive Fall dürfte den allermeisten Zuschauern im Depot 1 des Kölner Schauspiels bekannt sein. Als Heinrich Bölls Erzählung – er selbst nannte sie ein „Pamphlet“ – „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ vor 50 Jahren erschien, wurde sie schnell zum umstrittensten und meistverkauften Buch des Nobelpreisträgers aus Köln. Wer die Geschichte von der jungen Wirtschafterin, die sich auf einem Karnevalsball in einen mutmaßlichen Bankräuber verliebt, in den Fokus der Sensationspresse gerät und schließlich einen aufdringlichen Reporter erschießt, nicht gelesen hatte, sah ein Jahr später die Verfilmung von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta. Über viele Jahrzehnte blieb die Erzählung Schullektüre.

Was Heinrich Böll von der Roten Armee Fraktion hielt

Allen anderen hatten freilich auch eine Meinung, am berüchtigtsten wohl der spätere Bundespräsident Karl Carstens, der Böll unterstellte, unter dem Pseudonym „Katharina Blüm“ eine Rechtfertigung terroristischer Gewalt veröffentlicht zu haben. Böll stand der Roten Armee Fraktion keinesfalls nahe, hatte sogar das Wort vom Krieg der sechs gegen 60 Millionen geprägt. Er prangerte eine andere Gewalt an, nämlich diejenige, die damals insbesondere von den Hetzkampagnen der „Bild“-Zeitung ausging. Dank deren Vorverdächtigungen konnte so gut wie jeder als RAF-Sympathisant an den Pranger gestellt werden. Auch Böll selbst und sein Sohn Raimund gerieten in die Schusslinie der Springer-Blätter.

Regisseur Bastian Kraft, der den Text selbst für die Bühne adaptiert hat, interessiert sich nun aber gar nicht für die alten Geschichten aus bleierner Zeit, obwohl die Maske und die Kostüme von Jelena Miletić den Look der frühen 1970er liebevoll nachgestellt haben. Er weitet den Blick ins Gesamtgesellschaftliche: wie unversöhnlich sich Staat und radikale Linke auch gegenüberstanden, ein männerbündlerischer Sexismus war ihnen gemein.

Bastian Kraft hat seine Fassung von „Katharina Blum“ rein weiblich besetzt

Weshalb Kraft seine Fassung rein weiblich besetzt hat. Die drei Akteurinnen spielen sämtliche Rollen und die meisten davon in Drag. Aufwendig mit diversen Barttrachten und notdürftig überkämmten Glatzen in Männerkarikaturen verwandelt, sprechen sie dann von den Leinwänden über oder zu Katharina Blum. Genauer gesagt: ihre Lippen bleiben stumm, sie werden live von der Schauspielerin, die sich unter der jeweils abgefilmten Maske verbirgt, synchronisiert, übrigens erstaunlich perfekt – und mit stupendem Verfremdungseffekt. Der Blick wandert von der Leinwand-Type zu den Faktenhubern auf der Bühne und wieder zurück.

Hier scheint das Patriarchat selbst zu sprechen, vom Macho-Kommissar über den strengen Staatsanwalt bis hin zu den anonymen Anrufern, die die Diskreditierte bedrängen. Das spätere Opfer, der Reporter Tötges, erscheint nur als Fotografie. Wie leicht wäre es gewesen, ihn zum schillernden Bösewicht auszubauen, zum süffig gespielten, gewissenlosen Schmieranten. Aber die Inszenierung ist viel zu schlau, als dass sie uns mit einem leichten Sündenbock abspeist. Mit den ersten verleumderischen Schlagzeilen der Zeitung hatten die Spielerinnen je eine Hand in Druckerschwärze getaucht und auf der Leinwand verschmiert.

Die verlorene 
Ehre der
Katharina Blum
von Heinrich Böll
Regie: Bastian Kraft
 
Regie: Bastian Kraft
Bühne: Nadin Schumacher
Kostüme: Jelena Miletić
Musik: Björn SC Deigner
Licht: Jürgen Kapitein
Videodesign: Sophie Lux
Live-Kamera: Jonathan Kastl
Dramaturgie: Sibylle Dudek
 
Foto: Krafft Angerer

Vorne als Katharina Blum, hinten als Herrenbesuch mit Halbglatze: Lola Klamroth in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“

Nach und nach füllen sich die weißen Tafeln mit schwarzen Obszönitäten, bis kaum noch Projektionsfläche vorhanden ist. Das lenkt den Blick des Publikums weg von den sprechenden Köpfen – zuletzt sah man noch, wie sich die grotesken Besucher des Karnevalsballs über Katharina beugen, wie die satanischen Hausbewohner in „Rosemaries Baby“ – hin zu den realen, körperlich anwesenden Personen auf der Bühne. Gleichzeitig schälen sich Klamroth, Lindauer und Schmalenberg aus ihren Klischeemann-Outfits, wechseln die Perücke, reißen sich die Bärte von der Oberlippe.

Schließlich werden sie zu Katharina Blum, singen „Look What You Made Me Do“, den Song, in dem sich Taylor Swift ihre männlichen Verleumder als Racheengel heimsucht. Als dann endlich der tödliche Schuss knallt, die drei Katharinas auf die drei beschmierten Leinwände zielen, bleibt nur eine winzige Krittelei: Er hätte ruhig lauter ausfallen dürfen.

Umso kräftiger donnerte der Applaus im Depot 1, für Bastian Krafts schlüssige, ausgeklügelte Inszenierung, für Katharina Schmalenberg, Rebecca Lindauer und Lola Klamroth, die die handwerklichen Herausforderungen des Abends völlig vergessen ließen und zwischen Bühne und Leinwand eine Welt entstehen lassen, in der abweichende Meinungen und alleinstehende Frauen gleichermaßen verdächtig sind. Eine Welt, die heute unendlich fern, genauso oft aber auch unangenehm nah erscheint.

Denn das Gift, das die „Bild“-Zeitung und viele andere in den RAF-Jahren verprühten und gegen das Böll auf der „Suche nach einer bewohnbaren Sprache“ so emphatisch anschrieb, hat sich heute in jeder Kommentarspalte, in jeder Telegram-Message ausgebreitet: Wir sind alle Tötges, wir sind alle Blum.


Regie: Bastian Kraft, Bühne: Nadin Schumacher, Kostüme: Jelena Miletić, Musik: Björn SC Deigner, Licht: Jürgen Kapitein, Videodesign: Sophie Lux, Live-Kamera: Jonathan Kastl, Dramaturgie: Sibylle Dudek, Mit: Lola Klamroth, Rebecca Lindauer, Katharina Schmalenberg, Termine: 31. Januar, 6., 16., 18. Februar, 2., 21., 31. März, 100 Minuten, keine Pause, Depot 1