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Streit der WocheLohnt es sich, Trash-TV zu gucken?

Lesezeit 5 Minuten
Dschungelcamp Symbolbild

Sonja Zietlow und Daniel Hartwig, Moderatoren der RTL-Show „Ich bin ein Star“

  1. Dschungelcamp, Bachelor und Co: Die einen lieben Trash-TV, die anderen können es nicht ausstehen.
  2. Aber erweitern Sendungen wie „Bauer sucht Frau“ oder „Love Island“ unseren Horizont? Oder sind sie vertane Lebenszeit? Darüber diskutieren unsere Autoren.
  3. Jonah Lemm schaut zur Zeit eine Sendung über reiche Hausfrauen aus Beverly Hills, die auf Netflix angeboten wird. Er sagt: „Man kann aus den meisten Reality-Shows viel lernen. Man muss nur wollen.“
  4. Claudia Lehnen guckt zuweilen auch peinliches Zeug. In ihrer Lieblingsserie geht es um einen Bestatter, der versucht, bei jungen Witwen zu landen. Sie sagt: „Ich muss nicht dabei sein, wenn ein Sexist Dumpfbackenweiber zum Weinen bringt.“

Am Bildschirm können wir teilhaben an vermeintlich authentischen Abgründen menschlicher Befindlichkeiten – Erweitert das unseren Horizont? Oder ist das Schauen von Trash-TV bloß vertane Lebenszeit? Unsere Autoren diskutieren darüber in unserem Streit der Woche.

Pro: Man kann aus den meisten Reality-Shows viel lernen. Man muss nur wollen

Von Jonah Lemm

Mir sind Menschen, die Trash-TV grundsätzlich nicht unterhaltend finden, suspekt. Es ist ähnlich wie mit Leuten, die behaupten, ihnen würde „Fleisch einfach nicht schmecken“ oder sie könnten „auch ohne Alkohol einen lustigen Abend haben“. Keine Frage, es gibt gute Gründe, all diese Dinge nicht zu konsumieren (vor allem gesundheitlicher und moralischer Natur). Aber dieses kongenitale Vernunftgehabe, diese „Ich bin besser als Du, ohne dass ich mich dafür überhaupt anstrengen muss“-Attitüde, das nervt irgendwie.

Denn es ist doch so: Gleichzeitig ist all das doch nur so beliebt, weil es anscheinend mehr oder weniger geheime Wünsche in uns befriedigen kann. Etwa nach Genuss (Fleisch) oder nach geselligem Danebenbenehmen (Alkohol). Beim Trash-TV ist es die Neugier auf Welten, in die sonst der Einblick verwehrt bliebe. Es sind die Welten der Z-Promis und datenden Bauern.

Leidenschaftlichen Trash-TV-Schauern wird oft vorgeworfen, sie seien entweder selbst Teil der tumben Masse, der Unterschicht, deren Mitglieder in jenen Sendungen auch als Protagonist auftreten würden. Oder aber, falls das anhand offensichtlicher Umstände nicht sein kann (Hochschulabschluss, fester Job, die Fähigkeit, einen korrekten Relativsatz zu bilden), dass sie sich über ebenjenen Pöbel ja nur lustig machen wollten.

Beides ist Quatsch. Ersteres ist sogar ziemlich anmaßend, zielt die „Asi-TV“-Argumentation vor allem darauf ab, Menschen anhand ihres Medienkonsums und der eigenen Bewertung, was sehenswert ist und was nicht, pauschal abzuwerten (und, mal ehrlich, als ob der „Fernsehgarten“ anspruchsvoller wäre als das „Dschungelcamp“). Dazu kommt, dass man aus den Trash-Formaten dieses Landes sehr viel lernen kann. Man muss nur wollen.

Einerseits aus denen, die keinem Skript folgen. Darüber etwa, wie Menschen sich in Extremsituationen verhalten, wie sie instinktiv mit grundlegenden Problemen des Zusammenlebens umgehen, wenn sie keine Möglichkeit haben, ihnen einfach zu entfliehen, und keine Zeit, sich vorher über ihr Handeln ausgiebig Gedanken zu machen (gut hierfür taugt etwa „Big Brother“, da gibt’s alles: Neid, Betrug, Arroganz, Wut). Aber selbst aus den Shows mit Drehbuch kann man seine Schlüsse ziehen und sei es nur darüber, was die Macher von Mainstream-Sendungen (denn das sind sie ja, schauen Sie sich mal die Quoten an) in ihrer Zielgruppe für witzig, ungewöhnlich oder interessant halten.

Und keine Frage, es ist bis zu einem gewissen Punkt einfach auch unterhaltend, wenn sich Menschen selbst nicht zu ernst nehmen, sich vielleicht sogar ein bisschen blamieren. Das aber taten auch regelmäßig die Gäste bei „Wetten, dass ..?“ Der Unterschied: Das eine war halt bürgerlich akzeptiert, das andere ist es nicht.

Ich will nicht bestreiten, dass einige Trash-Sendungen durchaus Stereotype reproduzieren, in einer Weise, die hochproblematisch ist. Datingshows, bei denen 20 Frauen versuchen, so sexy wie möglich für einen Mann zu sein. Oder Heidi und ihre Models. Oder Formate, die offensichtlich ungebildete Menschen vorführen. Das ist diskriminierend. Alle Menschen, die in Reality-TV-Formaten mitwirken, pauschal als Idioten abzutun, aber auch.

Contra: Ich muss nicht dabei sein, wenn ein Sexist Dumpfbackenweiber zum Weinen bringt

Von Claudia Lehnen

Als ich 16 Jahre alt war, hatten wir sieben Fernsehprogramme. Nach Schulschluss flimmerten da Sachen wie „Hilfe, mein Mann ist 20 Jahre jünger als ich“ mit Jürgen Fliege, „Ich verkaufe mich“ mit Ilona Christen, „Arbeitslose Akademiker“ mit Hans Meiser, „Leute, die psychisch krank sind, weil ihr Busen zu klein ist“ mit Vera am Mittag oder „Dein Partner ist das Letzte – Sieh es endlich ein!“ mit Arabella Kiesbauer. Es war Mitte der 90er. Ich hab das Fahrrad in den Schuppen, Jacke und Schultasche in den Flur geworfen und mich mit einer 200-Gramm-Packung Käseaufschnitt auf dem Sofa abgelegt. Und dann hab ich mir alle vermeintlich authentischen Abgründe der Deutschen reingezogen.

Ich habe verfolgt, wie Peter, der mal mit Michaela zusammen war, bis die den mit dem arbeitslosen Alkoholiker und jetzigen Ehemann Harry betrogen hat, offenbart, dass Michaela nun Harry auch hintergehe. Und zwar mit einem gewissen Andreas, der via Telefon zugeschaltet wurde (ich schlage vor, dass Sie sich die Konstellation mal aufzeichnen, sonst kommen Sie leicht durcheinander). Ich hörte mir die schönsten Anekdoten von Klofrauen an, verfolgte, wenn Jürgen Fliege seine verzweifelten Gäste fragte „Darf ich mit Ihnen traurig sein?“ Stundenlang. Bis meine Mutter nach Hause kam und ich Restgehirnaktivität vortäuschen musste.

Wie viel Lebenszeit mir damals durch die Lappen gegangen ist, habe ich erst viele Jahre später verstanden, als das digitale Fernsehen erfunden wurde. Plötzlich war ich auch abends, wenn ich erschöpft vom Tag vor den Fernseher sank, nicht mehr gezwungen, mir Peter Zwegats Schuldenberatung für Ahnungslose anzusehen.

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Ich musste nicht mehr dabei sein, wenn ein Bauer eine Frau suchte, ein Sexist Dumpfbackenweiber zum Weinen brachte, weil er ihnen die Rose verweigerte oder Germanys next Topmodels von Heidi ermahnt wurden, doch regelmäßig das Gesichtshandtuch zu wechseln, um Mitesser zu vermeiden. Ich kann jetzt mal ’ne Doku auf dem iPad gucken oder ’ne interessante Serie. Genau dann, wann ich will. Mein Fernseher läuft nur noch, wenn unsere Kinder nach „Peppa Wutz“, „Kindsköpfe“ oder „Vampire Diaries“ verlangen. Was für ein Gewinn!

Das kommt jetzt wahrscheinlich streng rüber, aber ich hab mal ausgerechnet, was ich alles hätte anstellen können, wenn ich allein auf den nachmittäglichen Talk von Arabella Kiesbauer mit Problemen wie „Deine Haarstoppeln an den Beinen ekeln mich an!“ verzichtet hätte. Gut 2500 Folgen à eine Stunde – das macht eine Menge Lebenszeit. Hätte ich damals einfach nicht mehr zugehört, wenn 20-Jährige unter Tränen beichteten, den Vater ihrer besten Freundin zu lieben, wäre es mir heute vielleicht möglich, einen perfekten Salto zu schlagen oder Liebesbriefe auf finnisch zu schreiben oder „Hello, Dolly“ wie Louis Armstrong auf der Trompete zu spielen.

Wenn Sie glauben, dass ich ohne Trash-TV in einem elitären Poesiezirkel den Anschluss an das echte Leben verliere, dann sorgen Sie sich umsonst. Ich habe Kinder unterschiedlicher Altersklassen. Das echte Leben kommt nämlich nicht nachmittags um drei via Bildschirm zu einem aufs Sofa. Das trifft man in Schulen, am Basketballkorb, im Park, auf dem Fußballplatz, im Freibad, auf Spielplätzen, in Kneipen, beim Discounter und vor den Umkleidekabinen bei H&M.