Thomas Jonigk inszeniert „Gespenster“, Henrik Ibsens skandalträchtigstes Drama im Köln-Mülheimer Depot 2. Unsere Kritik.
Ibsen-Drama im Schauspiel KölnKann man geschenktes Leben wieder umtauschen?
„Gengangere“, heißt das Stück im dänisch-norwegischen Original. In Deutschland kennt man es als „Gespenster“, Henrik Ibsens skandalträchtigstes Kammerspiel. Wörtlich bedeutet der Titel „Wiedergänger“: Untote, die den Lebenden zum Verwechseln ähnlich sehen. Er könnte auch sich wiederholende Ereignisse bezeichnen. Was zum selben Ergebnis führt. Denn wer in seinem Leben dazu verdammt ist, die Vergangenheit nachzustellen, der ist bereits untot geboren.
Das trifft ganz sicher auf die Familie Alving zu und auf diejenigen, die sie mit in ihr Unglück reißt: Auf Anja Laïs' Witwe Helene Alving, die ein Kinderheim bauen lässt, zu Ehren des toten Gatten, den sie im Leben herzlich verachtet hat, und auf Benjamin Höppners Pastor Manders, der sie dabei unterstützen soll und in dessen Arme sie einst vor dem schamlosen Wüstling fliehen wollte. Es gilt für Jörg Ratjen als Sohn Osvald, der aus Paris mit von der Syphilis gebrochenem Geist zurückkehrt. Ebenso für das von Kristin Steffen gespielte Dienstmädchen Regine, mit dem er fortrennen will, nicht ahnend, dass auch sie ein Kind des schürzenjagenden Vaters ist. Zuletzt auch für Marek Harloffs trinkfreudigen Tischler, der sie als Tochter aufgezogen hat. Sie alle sehnen sich nach Lebensfreude und leben die Lüge, unerfüllte, gespenstische Existenzen.
Thomas Jonigk hat das Depot 2 leer geräumt
Thomas Jonigk, Chefdramaturg am Schauspiel Köln, setzt als Regisseur ganz auf den Text (in Heiner Gimmlers aufgeräumter Übersetzung) und sein hervorragendes Ensemble. Das Depot 2 ist leergeräumt bis auf einen Dia-Apparat mit Leinwand, darauf geisterhafte Familienszenen mit dem verstorbenen Vater, vier zusammengestellte Konferenztische und ein paar Stühlen. Das eigentliche Bühnenbild (von Lisa Dässler) besteht aus einer schwarzen Wandvertäfelung: Als Trauerflor, mit Sitzfläche und Klappkästen zum Verstecken – als würde hier heute Abend „Arsen und Spitzenhäubchen“ gespielt – rahmt sie das Geschehen.
Der Plüsch alter Guckkasten-Interieurs hat sich indes in die samtig-glänzenden Kostüme (Esther Geremus) der Darsteller zurückgezogen, vor allem die beiden Frauen wirken in ihren schleppenden Kleidern wie wandelnde Sofas. Und von Ibsens viel gerühmten psychologischen Einfühlungsvermögen (das in „Gespenster“ sowieso zur Seifenoper avant la lettre verkommt) ist nur die elektronische Musik Julian Stetters geblieben, die das Geschehen wie eine pochende Wunde durchpulst.
Jonigk entrümpelt diese Alvings gründlich, treibt ihnen den Realismus aus. Etwa, in dem er Jörg Ratjen, Jahrgang 1963, als jungen Sohn besetzt, schließlich kann kaum jemand so überzeugend auf der Bühne greinen. Oder, in dem er die Figuren im weiten Raum vereinzelt, um sie dann wieder zu engen Gruppenbildern zusammenzupferchen, oder mit weißem Tischtuch als Geister ihrer selbst zu verhüllen.
Am Ende wirken diese Wiedergänger eher von Samuel Beckett, dem Meister Sinn zersetzenden Leerlaufs, als von Ibsen erdacht. Wenn sich zwei Akteure, an entgegengesetzte Bühnenseiten gedrängt, anblaffen, oder hirnerweicht nur noch das Wort „Sonne“ wiederholen, könnten sie genauso gut in Mülltonnen, Erdhügel oder Urnen hausen. Wenn Harloff immer, wenn er auf sein krummes Bein angesprochen wird, mit einem possierlichen kleinen Tänzchen antwortet, scheint er sich direkt aus „Warten auf Godot“ in die norwegische Einöde verlaufen zu haben.
Die flinken Füße verraten den Pragmatiker. Während noch das hölzerne Kinderheim hochsymbolisch abfackelt, träumt er unbeeindruckt davon, in der Stadt ein „Gasthaus für Kapitäne und Steuermänner“ zu eröffnen, und bietet seiner Ziehtochter an, in dem kaum verklausulieren Hafenpuff für ihn zu arbeiten. Tatsächlich nehmen alle fünf die Nachricht vom Brand mit unverhohlener Genugtuung auf, die Lust am Untergang ist ihnen die einzig noch verbliebene Lebensfreude.
Weiterführende oder tiefergehende Gefühle bleiben ihnen versagt: Als es die Witwe Alving überkommt und sie sich leidenschaftlich auf den Pastor wirft, beendet Laïs das mit einem trockenen „'tschuldigung“. Und als Höppner daraufhin seinerseits die Witwe befummelt, rollt er sich mit einem gebrummten „Also, jetzt reicht's aber“ ab. Ein garantierter Lacher, nur davon, dass sie die unerfüllte Liebe als ein Verbrechen gegen das Leben begreift, er dagegen als einen Sieg gegen sich selbst, ist plötzlich keine Rede mehr.
Die Verbindung war, will uns die Inszenierung weiß machen, von Anfang zum Scheitern verurteilt. Trauma schlägt Liebe, jedes Mal. Auch Ratjens Osvald erwartet sich von Steffens Regine ja keine Hingabe, sondern lediglich die Bereitschaft, ihm aus Dankbarkeit den Gnadentod zu gewähren, wenn ihn denn endgültig der syphilitische Schwachsinn übermannt. Eben das geschieht bekanntlich am Ende. Regine ist da längst über alle Berge. Die Mutter bleibt alleine mit dem Sohn zurück und der Entscheidung, ob sie das Leben, dass sie geschenkt hat, wieder umtauschen kann.
Die Erschütterung hält sich in Grenzen, die Kölner „Gespenster“ bleiben eine Fingerübung, von Thomas Jonigk präzise in Szene gesetzt, vom Ensemble souverän gespielt. Nur zur im kleinen Programmheft gestellten Frage nach der Weitergabe von Traumata von Generation zu Generation, nach dem Abtragen vererbter Lasten, hat der Abend wenig bis gar nichts zu sagen: Diese Untoten haben nie gelebt.