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Igor Levit in KölnUnruhe bei den leuchtendsten Momenten

Lesezeit 4 Minuten
Starpianist Igor Levit schaut in die Kamera.

Igor Levit

Der Pianist überraschte in der Philharmonie mit einem entlegenen Repertoire. Mitunter fiel es dem Kölner Publikum schwer, ihm zu folgen.

Johannes Brahms' sechs späte Choralvorspiele in der Klavierbearbeitung von Ferruccio Busoni verbreiten den muffigen Retro-Charme stockfleckiger Dachbodenfunde. Schwere Bassoktaven ahmen das gravitätisch schreitende Orgelpedal nach; die Weihestimmung der Choralzeilen ist vom Pathos romantischer Bach-Begeisterung durchglüht. Diese Musik ist so überlebt und gestrig, dass ihre Wiedererweckung fast eine Provokation darstellt - aber das wäre gewiss das Letzte, woran sich Igor Levit stören würde.

Natürlich demonstriert der deutsch-russische Starpianist und Hannoveraner Klavierprofessor mit dieser entlegenen Repertoirewahl auch, dass er mittlerweile spielen kann, was er will - die Kölner Philharmonie füllt sich trotzdem bis auf den letzten Platz. Aber Levit ist hier schon vor zehn Jahren mit einem ähnlich abstrusen Programm aufgeschlagen; und da war er noch keineswegs der twitternde Welterklärer, der die einen begeistert und den anderen auf die Nerven geht.

Igor Levit ist in allem, was er tut, ein Überzeugungstäter

Nein, Igor Levit ist hier, wie in allem, was er macht, Überzeugungstäter. Er will an diesen Stücken etwas Spezifisches zeigen, und das gelingt ihm auch sehr eindrucksvoll. Jene Schichtung der musikalischen Ebenen und Funktionen, die auf der Orgel durch unterschiedliche Registerfarben entsteht, baut er auf dem Klavier über eine ausgeklügelte Dynamik und Pedalgebung nach; es entsteht eine verblüffende Räumlichkeit, zuweilen der Eindruck von vierhändigem Spiel - und wenn dann plötzlich in der hohen Lage noch ein helles Glockenregister aufleuchtet, scheint sogar eine geisterhafte fünfte Hand beteiligt zu sein.

Es ist nicht nur diese stolz vorgeführte pianistische Verfügungsgewalt, die Levits Spiel unmittelbar in die Tradition des 19. Jahrhunderts stellt; es ist auch der Wille, das Klavier als Fernrohr in andere Gattungen und Ausdruckswelten zu richten. Dem befreundeten amerikanischen Jazzpianisten Fred Hersch etwa erwies er mit dessen „Variations on a Folksong“ aus dem Jahre 2021 die Reverenz - ein gut klingendes, harmonisch apartes, aber etwas langatmiges Stück, dem es auf die Dauer schon deutlich an Bewegung und Fluss fehlt. Ohne Levits subtile Schattierungs- und Charakterisierungskunst hätten diese 20 Variationen einen eher faden Eindruck hinterlassen.

Der zweite Teil des Abends war schon beinahe mehrheitsfähig

Ähnlich verhält es sich mit dem Vorspiel zu Wagners „Tristan und Isolde“, das den sehr viel mehrheitsfähigeren zweiten Teil des Abends einläutete. In den ekstatischen Breitseiten des Mittelteils klang das Arrangement des Kollegen Zoltán Kocsis letztlich auch nicht besser als der übliche Klavierauszugs-Donner. Spektakulär dagegen war der Anfang, der in seiner extremen Dehnung und Reduktion auf ein fast unhörbares Pianissimo eine atemberaubende Spannungsdichte erzeugte.

Auf der Bühne geht das Vorspiel unmittelbar in die Oper über - wie und wo soll man also im Konzertsaal schließen? Hier gelang dem Pianisten ein geschickter Coup: Die gleichen gedämpften Staccato-Basstöne, mit denen das Stück endet, stehen auch am Beginn von Franz Liszts monumentaler h-Moll-Sonate, die Levit auf diese Weise nahtlos anschließen konnte.

An der Interpretation dieses romantischen Gipfelwerkes war vieles zu bewundern, die pianistische Bravour ebenso wie die glasklare Transparenz, die federnde Wucht der quasi-orchestralen Entladungen wie die unmittelbar berührende fragile Schönheit, die das lyrische Seitenthema bei jedem Auftreten entfaltete. Was aber am stärksten haftet, ist Levits Umgang mit der Zeit: In seiner meisterhaften Form-Dramaturgie bekommt die Pause, bekommen Verharren und Stillstand eine beherrschende, raumgreifende Kraft.

Es gelingt ihm auf geradezu mirakulöse Weise, die Limitationen des Klaviertons aufzuheben, der nach seinem Anschlag doch eigentlich unrettbar verklingt, der hier aber wie in einem tönenden Hologramm eingefangen wird. Das geistige Exerzitium, das Levit mit seiner ganz eigenen Spielweise vollzog, nahm ihn erkennbar mehr in Anspruch als alle pianistischen Probleme, die er ohnehin mit leichter Hand bewältigte.

Für das Publikum war es aber wohl nicht immer einfach, dem Pianisten in diese künstlerische Innenschau zu folgen - gerade in den am stärksten leuchtenden Momenten dieses ungewöhnlichen Abends machte sich am meisten Unruhe breit. Erlösung und Entspannung kam indes mit der Zugabe, dem Adagio cantabile aus Beethovens „Pathétique“-Sonate, dessen wechselnde Aggregatzustände Levit mit einem großen musikalischen Bogen überbaute.