Herr Levit, ich erwische Sie zu diesem Interview, während Sie im Auto zu einem Termin in Berlin gefahren werden. Wo geht’s hin – zu einem Konzert oder zu einer Wahlkampfveranstaltung?
Igor Levit: Weder noch, ich bin auf dem Weg zu einer Aufnahme im Studio.
Sie brennen ja derzeit wirklich an beiden Enden. Müssen wir uns Sorgen machen?
Ich brenne – ja, das stimmt, aber ich verbrenne nicht. Ich erlebe das alles sehr bewusst und sehr intensiv.
In Ihrem Buch „Hauskonzert“ schreiben Sie, dass Faschisten auch gerne in die Oper gehen. Musik macht also Menschen nicht besser...
Nein, alle Erfahrung lehrt, dass auch die schlechtesten Menschen Musik lieben.
Aber der Neonazi, der gerne die Diabelli-Variationen hört – ist er Ihnen nicht trotzdem unerträglich?
Selbstverständlich ist er mir unerträglich. Aber genau darum ging es mir ja bei diesem Gedanken: Musik allein ist kein Brückenbauer. Und ich kann schließlich nicht kontrollieren, wer bei mir im Publikum sitzt. So oder so ist klar: Es gibt Menschen, mit denen ich definitiv nichts zu tun haben will – ganz gleich, ob sie Beethoven-Fans sind oder nicht.
Führt tatsächlich kein Weg von der Ästhetik zur Ethik, von der Kunst zu Politik? Sie selbst spielen immer wieder Frederic Rzewskis Variationen über das lateinamerikanische Widerstandslied „A People united will never be defeated“. Das ist doch ein künstlerisch-politisches Statement – das sich Nazis sicher ungern anhören.
Da werden Sie Recht haben. Aber ich will auf etwas Anderes hinaus: Musik muss erst mal gar nichts. Sie kann unendlich viel, kann Menschen auf eine Weise bewegen, wie es Worte nicht vermögen. Wir nähern uns mit ihr existenziellen Fragen: Wie fühlt sich Angst an? Wie fühlt sich Hoffnung an? Wie klingt Einsamkeit? Wie klingt Sehnsucht? Kunst lässt einen Raum entstehen, in dem Menschen zusammenkommen können. Sie hat die Kraft, uns daran zu erinnern, wie wir Menschen sein können.
Da könnte das Politische zugehören...
Natürlich. Aber wenn es nur im Konzertraum geschieht, wird es die Welt nicht verändern. Wenn wir sie tatsächlich verbessern, ja retten wollen, dann müssen wir das schon selbst tun. Da geht es nicht mehr um Musik, sondern um politisches und gesellschaftliches Handeln.
Am Sonntag ist Bundestagswahl. Sie selbst sind Mitglied der Grünen und machen engagiert Wahlkampf für die Partei. Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle – sind Sie ein „Bürgerkünstler“ oder ein politischer Bürger, der zufällig auch noch gut Klavier spielt?
The People’s Pianist“? (lacht) Na, ich bin ein bisschen beides. Natürlich bin ich ein engagierter Bürger: Ich unterstütze Annalena Baerbock, so gut ich es kann – sie ist mir sehr nah. Also: Zu allererst bin ich Mensch, bin ich Bürger, bin ich Demokrat.
Aber Sie haben sicher nichts dagegen, dass Ihre Bekanntheit als Künstler dem Einsatz für Ihre Partei zugutekommt?
Ja, aber das hat von Haus aus nichts miteinander zu tun. Ich war den Grünen schon zu einer Zeit nah, als noch niemand über mich als Pianist geschrieben hat. Das ist also kein Marketing-Gag, sondern alles sehr durchdacht und konsequent.
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Was hat Sie seinerzeit politisiert?
Ein Leben hat mich politisiert, die Welt, in der ich lebe. Die Finanzkrise, die ressentimentgeladene Hetze der deutschen Rechten und des Boulevards gegen Südeuropa in der Eurokrise: Wir gute Deutsche gegen die faulen Griechen! Natürlich die bis heute andauernde Flüchtlingskrise, die ökologischen und ökonomischen Krisen.
Sie mussten ja eine Menge Hass ertragen, auch antisemitische Anwürfe. Wie gehen Sie heute damit um?
Wenn mich jemand kritisiert und sich dabei an Inhalten abarbeitet, gehe ich damit sehr offen um. Wenn aber diese Clowns glauben, sie könnten meine Angst kriegen, dann sollten sie sich warm anziehen. Ich reagiere auf Angriffe sehr differenziert, bin mir auch bewusst, dass mein Auftreten Gegenwind erzeugt. Soll er kommen!
Wie wirkt die Auseinandersetzung mit dem SZ-Musikredakteur Helmut Mauró bei Ihnen nach, dem vorgeworfen wurde, er bediene in einer Ihnen gewidmeten Konzertkritik antisemitische Klischees?
Die Geschichte ist jetzt ein Jahr alt und wirklich Altpapier. Ich selbst bin da schon viel weiter. Wer Maurós Text lesen will, kann ihn noch immer lesen. Er spricht für sich, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
Was erhoffen Sie sich von der Bundestagswahl? Sind Sie optimistisch, alarmistisch, defätistisch gestimmt? Was steht auf dem Spiel?
Alles steht auf dem Spiel. Die Welt, wie wir sie erleben, ist toll, wunderschön – und sie ist messy, verändert sich katastrophal. Das muss man den Menschen ehrlich sagen. Das Klima ist das Jahrhundertthema unserer Zeit. Und es betrifft und tangiert sämtliche andere Bereiche – das Soziale, das Wirtschaftliche und das Kulturelle sowieso. Die Frage ist: Gestalten wir die Veränderung, die eh kommt, oder reagieren wir erst, wenn das Schiff Schlagseite hat? Wirklich entsetzt bin ich darüber, wie die Konservativen in diesem Land intellektuell und politisch auseinanderfallen. Auch wenn ich nicht auf deren Seite bin: Wir brauchen sie – auch als Brandmauer gegen rechts. Und nicht einmal das funktioniert ja einwandfrei. Und unsäglich ist, wie sie einen Wahlkampf gegen den „verkappten Kommunisten“ Olaf Scholz führen. Also, was ich mir erhoffe: dass wir eine neue Regierung bekommen, die sich darüber im Klaren ist, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, um überhaupt noch etwas zu machen. Das Fenster schließt sich in diesen Jahren.
Kampf gegen den Antisemitismus ist ein wichtiger Bestandteil Ihrer Agenda. Müssen wir in Deutschland, nach wie vor, besonders aufpassen?
Ja, natürlich müssen wir das. Aber vor allem müssen wir uns ehrlich machen in der Diskussion darüber, was Antisemitismus ist. Ich möchte in diesem Kontext etwas zu dem Solidaritätsbrief für die WDR-Redakteurin Nemi El-Hassan sagen, den ich unterschrieben habe – woraufhin mit tatsächlich Leute Antisemitismus vorwarfen. Ja, geht’s denn noch? Nemi hat sich für Fehler in der Vergangenheit entschuldigt. Punkt. Es geht nicht, dass die Rechten bei Antisemitismus von links oder von islamischer Seite aufschreien, aber die Meinungsfreiheit geltend machen, wenn der Antisemitismus von rechts kommt. Wir dürfen diese Schlagseiten nicht tolerieren.
Thema Corona: Aus Ihrem Buch geht hervor, wie Sie selbst diese Krise erschüttert und beeinträchtigt hat. Sie ermuntern die Wähler im Wahlkreis 101 (Köln IV/Leverkusen), am Sonntag ihre Erststimme dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach zu geben, der ja bei den Corona-Regeln immer wieder einen strengen Kurs anmahnt. Sind Sie da nicht innerlich ein wenig hin- und hergerissen?
Also, sie werden bei mir keine Aussage finden, mit der ich die „Freedom Day“-Aktivitäten von Impfgegnern oder Corona-Leugnern unterstütze. Karl ist mir menschlich und politisch aus folgenden Gründen wichtig: Er ist Arzt, er ist Politiker und hat seine Rolle darin gefunden, die Gesundheit von so vielen Menschen wie möglich im Blick zu haben. Kurzum: Er ist einer der fairsten, integersten und empathischsten Menschen, die mir überhaupt bis jetzt in der politischen Arena begegnet sind. Er hat Dinge gesagt, die auch für mich frustrierend waren. Aber er hat Recht behalten. Er muss einfach wieder in den Bundestag. Der wäre ohne ihn eklatant ärmer.
Aber dürfen Sie überhaupt für ihn werben? Als Grünen-Mitglied müssten Sie eigentlich zwingend die Grünen-Wahlkreiskandidatin und nicht die Konkurrenz unterstützen.
(Lacht) „Also, die Grünen werden mir darob nicht böse sein. Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich den Anspruch erheben, in Leverkusen ein Direktmandat zu erringen. Bei Karl bin ich „überparteilich“.
Von der aktuellen politischen Lage zu Ihrem aktuellen Album mit Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie Ronald Stevensons „Passacaglia on Dsch“, einer gewaltigen Hommage an Schostakowitsch. Schön und gut, aber Repertoirerenner sind das ja nicht gerade...
Ich habe mich jahrelang mit dem einen wie mit dem anderen Werk beschäftigt, und dabei entwickelte sich das brennende Verlangen, beide aufzunehmen. Ich wollte ihnen einfach die größtmögliche Bühne geben.
Schostakowitschs Werk ist ohne das Vorbild von Bachs Wohltemperiertem Klavier nicht denkbar, es ist ein Stück weit Musik über Musik. Wer ist besser – Bach oder Schostakowitsch?
Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Natürlich verneigt sich Schostakowitsch vor Bach, trotzdem ist dieses Opus 87 ureigenster Schostakowitsch.
Der Komponist führte – Julian Barnes hat das jüngst noch einmal in seinem Roman „Lärm der Zeit“ beschrieben – ein Leben unter einer brutalen Diktatur. Also auch hier ein politischer Aspekt. Hat der für Sie eine Rolle gespielt?
Ja und nein. Ich habe mich mit Schostakowitschs Leben intensive beschäftigt. Aber es war natürlich sein Leben, und ich lebe das meine. Noch einmal: Ich bin dagegen, Musik zu instrumentalisieren für eine Geschichte. Menschen sollen diese Musik hören und sich ihre eigenen Bilder machen.
Rzewski und Stevenson waren Kommunisten, Schostakowitsch hat unter einem kommunistischen Regime gelitten. Wie geht das bei Ihnen zusammen?
Schostakowitsch war aber auch ein Superstar in seiner Zeit. Wie das zusammengeht, darüber mache ich mir keine Gedanken. Es ist in allen Fällen großartige Musik, und alles andere bleibt Ihren Ohren überlassen.
Sie neigen stark zur Realisierung von zyklischen Mammutprojekten, die auch physisch an eine Grenze führen. Ein Versuch der Selbsttranszendierung?
Ja, weil ich einfach Zeit und Raum habe, mich selbst darin wiederzufinden – und diesen Raum auch den Hörerinnen und Hörern gebe.
Sie haben als Künstler immer wieder das Recht auf Ihre Individualität betont. Sie sind es, der da spielt, und kein anderer, und das soll man auch hören. Man hat Ihnen das zuweilen als subjektivistische Willkür ausgelegt. Wie aber lässt sich das Verhältnis von Werk und Subjekt genauer fassen? Ich erinnere mich an eine Kölner Aufführung von Beethovens viertem Klavierkonzert, in der Sie den ersten Akkord Ihres Solobeginns arpeggierten. In der Partitur steht dieses Arpeggio nicht, die Musik bekommt dadurch einen anderen Charakter.
Langsam, langsam, das stimmt so nicht. Der Schüler Carl Czerny hat in seinem Buch über Beethovens Klavierwerke und ihre Interpretation durch ihn selbst dieses Arpeggio als Ausführungsbestimmung für den Akkord festgehalten. Insofern betreibe ich sogar Historische Aufführungspraxis.
Da haben Sie mich auf dem falschen Fuß erwischt. Trotzdem bleibt die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Werk und Subjekt.
Werk und Subjekt gehen Hand in Hand. Ohne das Werk habe ich nichts zu spielen, und ohne mich erklingt das Werk nicht. Es ist im allerschönsten Sinn eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Daran glaube ich.
Sie haben – und das sieht man an Ihren Konzertprogrammen genauso wie Ihren Aufnahmen – eine besondere, existenzielle, Ihr Leben prägende Beziehung zu Beethoven. Was ist da maßgeblich?
Es ist schwer, das in wenige Worte zu fassen. Diese Musik ist mir in ihrer Sprache, in jedem Ton sehr nah. Ich fühle mich wohl darin, sie erzwingt Neugierde und Erneuerung. Und Veränderung: Sie hält wach, sie ist ungeheuer lebendig. Jedes dieser Stücke inspiriert Tag für Tag, sie führen in ein absolutes Zentrum, und das wird auch so bleiben, solange Menschen sie hören.
Hintergrund: Infos zu Leben und Wirken Igor Levit
Igor Levit wurde 1987 im russischen Gorki geboren. 1995 übersiedelte die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Hannover. Nach erster Unterweisung durch seine Mutter und einem Jahr Klavierunterricht am Salzburger Mozarteum nahm Levit als 13-jähriger ein Klavierstudium als Hochbegabter an der Musikhochschule Hannover auf. Für sein Konzertexamen, unter anderem mit Beethovens Diabelli-Variationen, erhielt er die höchste Punktzahl, die jemals in der Geschichte der Hochschule vergeben wurde.
Seit 2000 konzertiert Levit in Europa, den USA und Israel. Seit 2019 ist er selbst, mittlerweile wohnhaft in Berlin, Klavierprofessor an der Hannoveraner Musikhochschule. Zu seinen stark diskutierten CD-Aufnahmen gehören Einspielungen sämtlicher Beethoven-Sonaten sowie etlicher zyklischer Großwerke: der Goldberg-Variationen, der Diabelli-Variationen, Schostakowitschs "24 Präludien und Fugen" opus 87, Frederic Rzewskis Variationen über "A People united never will be defeated" und Ronald Stevensons "Passacaglia".
Levit ist Mitglied der Grünen und engagiert sich seit langem gegen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, aber auch in der Flüchtlings- und Klimakrise. Während der Corona-Pandemie gab er eine Reihe von 52 "Hauskonzerten" über Twitter und Instagram. Eines fand auf Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Berliner Schloss Bellevue statt, wo er Beethovens "Waldstein"-Sonate- spielte. 2014 wurde er einem "Echo Klassik" ausgezeichnet, einer von zahlreichen Ehrungen für Levit. Aus Protest gegen die Auszeichnung der Rapper Farid Bang und Kollegah bei der Echoverleihung 2018 gab er seinen Echo zurück und erklärte: "Antisemitische Parolen eine solche Plattform zu geben, ist unerträglich."
Im Frühjahr dieses Jahres erschien bei Hanser Levits Buch "Hauskonzert" (in Zusammenarbeit mit Florian Zinnecker), in dem er seine künstlerische und politische Existenz reflektiert.