Interview mit François-Xavier Roth„Wie kriegen wir das Publikum wieder zurück?“
- Am Sonntag. 6. September, findet ein außergewöhnliches Konzert im Kölner Gürzenich statt.
- Die Komponistin und Sängerin Ayanna Witter-Johnson und Generalmusikdirektor François-Xavier Roth sprechen über das Programm, die Besonderheiten eines Konzerts unter Corona-Bedingungen und was sie an der Pandemie besonders beunruhigt.
Frau Witter-Johnson, Herr Roth, wie erleben Sie persönlich die Corona-Zeit?
Ayanna Witter-Johnson: Ich lebe in einem permanenten Zustand der Ungewissheit, sehr stark von einem Augenblick auf den anderen. Aber man lernt dabei, den Wert des Augenblicks zu schätzen – und all das, was man immer noch hat. Vieles ist weggebrochen, anderes wurde intensiviert: Ich habe viele Aufträge, komponiere zuhause. Mein Haus ist überhaupt mein Studio geworden, für Filme und Aufnahmen. Reisen ist ja nicht.
François-Xavier Roth: Ich bin glücklich, als Musiker in Deutschland arbeiten zu können. Dank der öffentlichen Finanzierung vieler Orchester läuft es hier besser als in England und Amerika. England befindet sich jetzt in einer Situation, wie wir sie Anfang Mai hatten. Die Restriktionen waren sehr frustrierend, zwangen uns aber zugleich, über das, was wir tun, einmal grundsätzlich nachzudenken. In unserem Metier ist normalerweise alles lang vorher geplant – jetzt mussten wir im binnen weniger Tage planen und umplanen. Wir mussten neue Programme machen, und so etwas fördert Erfindungskraft und Improvisationsgabe – etwas, was Musikern ja eigentlich gut ansteht. Und in der Gesellschaft nehmen wir ein großes Bedürfnis nach Kultur wahr, gerade weil sie nicht mehr selbstverständlich ist. Was mich am meisten beunruhigt: Wie kriegen wir das Publikum wieder zurück in die Konzertsäle?
Corona nötigt, Sie sagten es, zur Änderung der Programme – vor allem, weil die Musikerzahl auf dem Podium begrenzt wird. Das gilt auch für das Saisoneröffnungskonzert des Gürzenich-Orchesters am Sonntag.
Roth: Tatsächlich mussten wir den kompletten Rahmen neu ziehen – auch wegen des Pausenwegfalls und der kürzeren Dauer. Wir spielen jetzt Strawinsky statt Skrjabin – den Solopart spielt statt Yuja Wang Bertrand Chamayou – und von Strauss nicht den „Zarathustra“, sondern die „Metamorphosen“. Ayannas „Unconditionally“ behielten wir bei, beauftragten sie aber, zur Einleitung des Konzerts noch eine kurze „Fanfare“ zu schreiben. Es ging uns darum, den „Geist“ eines Programms zu bewahren, ihn aber sozusagen corona-kompatibel zu machen.
Festkonzert
François-Xavier Roth, geboren 1971 in Neuilly-sur-Seine, ist seit 2015 Generalmusikdirektor der Stadt Köln.
Ayanna Witter-Johnson, geboren 1980 als Tochter jamaikanischer Einwanderer, ist als Komponistin, Sängerin, Songwriterin und Cellistin Grenzgängerin zwischen Neuer Musik, Jazz und Pop.
Am Sonntag (11 und 14 Uhr), 6. September, ist sie im Festkonzert des Gürzenich-Orchesters in der Philharmonie unter Roths Dirigat in zwei Werken als Komponistin und Performerin zu erleben. Zu hören sind weiterhin Kompositionen von Strawinsky und Strauss. (MaS)
Wie kam es zur Fanfaren-Idee – solche von namhaften Komponisten verfasste Fanfaren soll es bis zum Jahresende in allen Abo-Konzerten geben?
Roth: Von den Corona-Einschränkungen sind naheliegend die Bläser am meisten betroffen – und vor allem die Blechbläser. Für die wollten wir etwas tun. Und da habe ich gesagt: Lasst uns die Krise nutzen und neues Repertoire erfinden – in diesem Fall eben für das Blech. Und so haben wir dann die Fanfaren in Auftrag gegeben – auch, um den Komponisten zu helfen. Ayanna macht den Anfang.
Witter-Johnson: Eine tolle Idee für mein Debüt beim Gürzenich-Orchester. Ich hatte zunächst die Vorstellung, die Fanfare geleite, draußen gespielt, das Publikum in den Saal – wie eine Einladung zu „deinem“ Konzert.
Was erwartet den Hörer – mich selbst hat Ihr Stücktitel „Fanfare for the brave“ übrigens an Aaron Coplands berühmte „Fanfare for the common man“ erinnert?
Witter-Johnson: Es dauert etwa vier Minuten und ist ausschließlich für Brass und Schlagzeug geschrieben. Copland? Ja, tatsächlich sehe ich mein Stück als eine Hommage an die „Fanfare for the common man“. Da ist eine Einfachheit und Stärke drin, die mich inspiriert hat. Das passt zur Saisoneröffnung.
Sie beide kennen einander, vermute ich, von London her?
Roth: In der Tat. Ich traf Ayanna beim London Symphony Orchestra im Rahmen des Panufnik-Förderprogramms für junge Komponisten. Als ich ihre erste Partitur sah, war ich sofort fasziniert. Und sie ist eben nicht nur eine tolle Komponistin, sondern auch darstellende Künstlerin. Sie hat einfach diesen reichen Hintergrund, reißt die in Deutschland oft noch starren Wände zwischen den Sparten ein, etwa zwischen neuer Musik und Jazz.
Witter-Johnson: In Deutschland dürfte das regional sehr unterschiedlich sein. Berlin etwa habe ich bei meinen Aufenthalten als sehr offen erlebt. Aber es stimmt schon: London ist ein Schmelztiegel, wo sich Menschen und Kulturen von überallher treffen. Das prägt einen.
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Herr Roth, Sie sprachen vom „Geist“ des Programms. Welcher ist dies?
Roth: Es liegt angesichts der Beschränkungen nahe, die verschiedenen Gruppen des Orchesters – Streicher, Bläser – für sich zu präsentieren. Genau das tun wir. Strawinsky und die Fanfare für Bläser, Ayannas „Unconditionally“ für (ihre) Stimme, Oboe, Streicher und Schlagzeug, die „Metamorphosen“ für Streicher. Es ist übrigens alles andere als ein „Light music“-Programm. Strauss schrieb dieses Spätwerk kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kann die Corona-Krise damit nicht vergleichen, aber erwägen Sie: Sogar in diesem furchtbaren Krieg hat es noch Theater und Musik gegeben – und jetzt war es uns, absehbar überhaupt das erste Mal in der Geschichte unserer Zivilisation, eine Zeit lang verboten, aufzutreten.
Das Gespräch führte Markus Schwering