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Interview zu sexueller Gewalt im Netz„Jeder dritte Täter ist ein Jugendlicher“

Lesezeit 6 Minuten

Die meisten Opfer von Cybergrooming sind zwischen zehn und 14 Jahre alt.

  1. Unter „Grooming“ verstehen Experten wie Thomas-Gabriel Rüdiger die onlinebasierte Anbahnung von sexuellen Handlungen.
  2. Er erklärt im Interview: Annähernd jedes Kind wird online einmal mit einem Cybergroomer konfrontiert.
  3. „Wir haben als Gesellschaft versagt, darüber aufzuklären, was man im Netz darf, was nicht und ab wann man zum Täter wird“, sagt er.

Köln – Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger von der FH der Polizei des Landes Brandenburg untersucht das Phänomen Cybergrooming – und fordert einen verpflichtenden Medienführerschein.

Eines Ihrer Forschungsgebiete nennt sich Cybergrooming. Beschreibt die oft zitierte Definition „Streicheln im Netz“ das Phänomen korrekt?

Ich bin kein Freund dieser Definition, die sich von der Übersetzung des Begriffs „Grooming“ herleitet, was so viel bedeutet wie streicheln oder striegeln und sich auf die Tier- und auch Bartpflege bezieht. Das wird dem Ausmaß und der Schwere des Vergehens nicht gerecht. Kriminalwissenschaftler verstehen darunter eher die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Wie kann man sich die Täter vorstellen. Sind es überwiegend ältere Männer?

90 bis 95 Prozent der Tatverdächtigen sind Männer, zwei Drittel davon unter 30 Jahre alt. Wir beobachten, dass die Anzahl der minderjährigen Tatverdächtigen in den vergangenen fünf Jahren massiv gestiegen ist, was bedeutet, dass wir es vermehrt auch mit einer Peer-Gewalt, also mit sexueller Gewalt unter Jugendlichen und Kindern selbst zu tun haben.

Gibt es eine spezielle Taktik, eine Art allgemeine Vorgehensweise der Cybergroomer?

Ich unterscheide zwischen Intimitäts- und hypersexualisierten Tätern. Erstere gehen strategisch vor, versuchen langfristig das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, um sich dann auch in der realen Welt mit ihnen zu treffen. Sie nähern sich ihren Opfern oft zunächst freundschaftlich, noch ohne sexuelle Anspielungen. Je mehr Vertrauen aufgebaut wird, desto sexualisierter kann die Konversation werden. Hypersexualisierte Täter sind weniger strategisch ausgerichtet. Sie versuchen vielmehr, ein Kind möglichst schnell zu sexuellen Handlungen zu bewegen, über Videos, Handy-Bilder oder Chats. Damit erpressen sie ihr Opfer dann zu schwerwiegenderen Handlungen.

Wo genau sind die Tatorte im Netz?

So gut wie überall, wo sich Kinder aufhalten. Doch Online-Spiele bieten sich besonders gut an, da sie oft ohne Altersbeschränkung zugänglich und kindgerecht gestaltet sind. Annähernd jedes zweite Kind entdeckt das Internet durch Onlinespiele für sich und fast alle Spiele haben eine Chatfunktion, die eine Kommunikation zwischen den Spielern ermöglicht. Wir wissen, dass Kinder, ähnlich wie auf dem Fußballplatz, auch in Online-Spielen Vertrauen zu einem Mitspieler aufbauen. Gerade diesen Aspekt nutzen Cybergroomer und vermehrt auch Extremisten aus.

Ab welchem Alter sind Mädchen und Jungen betroffen - und wie wahrscheinlich ist es, dass einem Kind so etwas passiert?

Die meisten Opfer sind zwischen zehn und 14 Jahre alt, aber es gibt auch Fälle, bei denen unter Sechsjährige betroffen sind. Ich gehe fest davon aus, dass annähernd jedes Kind mindestens einmal mit einem Cybergroomer konfrontiert wird. Wir gehen hier, wie bei allen Missbrauchsdelikten, von einem hohen Dunkelfeld aus – haben es also mit einem Massenphänomen zu tun – wobei im Jahr 2018 lediglich 1400 Fälle angezeigt wurden.

Sind vor allem Mädchen in Gefahr?

Keinesfalls, bei den Jungen nutzen die Täter ähnliche Methoden, geben sich statt als Model-Scout von Heidi Klum als Talent-Scout eines großen Fußballvereins aus oder behaupten, für eine Analysesoftware ein Nacktfoto zu brauchen. Die hypersexualisierten Täter nutzen sämtliche Methoden – von Schmeicheleien, über die Bezahlung mit virtuellen Gütern oder echtem Geld bis hin zu massiven Einschüchterungen und Erpressungen.

Cybergrooming ist eine Straftat – wie wird sie geahndet?

Der Gesetzgeber sieht im Internet schon die kommunikative Annäherung an das Kind als strafbar an, wenn das Ziel der sexuelle Missbrauch des Kindes ist. Dazu gehört auch, wenn jemand zum Beispiel über ein Online-Spiel ein Kind vermeintlich harmlos anspricht, das mit einer bestimmten Intensität weiterführt. Und das Kind dann überredet, auf andere Kommunikationskanäle wie Messenger umzusteigen, die Webcam zu aktivieren oder Bilder seiner Geschlechtsteile zu schicken.

Fragen wie „Hast du dich schon mal angefasst?“ stehen im digitalen Raum leider auf der Tagesordnung. Ist das Bild verschickt, kann der hypersexualisierte Täter das Opfer damit erpressen: „Wenn du mir nicht ein Video sendest, wird deiner Familie etwas Schlimmes passieren!“

Dennoch sprechen Sie von Cybergrooming als Massenphänomen. Was fehlt, um Opfer zu schützen und Täter zu überführen?

Wir haben als Gesellschaft versagt, darüber aufzuklären, was man im Netz darf, was nicht und ab wann man zum Täter wird. Eltern überlassen ihren immer jüngeren Kindern ein Smartphone, ohne sich selbst mit den Regeln im Netz oder dem digitalen Strafrecht auszukennen. Cybergrooming reiht sich ein in eine allgemeine Unrechtskultur im Netz. Wir haben mindestens zwei Generationen heranwachsen lassen, für die Sexualisierung, Beleidigungen, Radikalisierung und versuchte Betrugsdelikte im Netz selbstverständlich und alltäglich sind.

Das Internet, ein rechtsfreier Raum?

Absolut, weil die Täter bis jetzt keine Angst vor hinreichender Strafverfolgung haben müssen – da die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Rechtsbruch geahndet wird, sehr gering ist. Das liegt unter anderem an der fehlenden Sichtbarkeit der Polizei im Netz. Wie viele Polizeibeamte sind Ihnen heute auf dem Weg zur Arbeit begegnet? Und im Netz? Haben Sie schon mal einen gelöschten Kommentar gesehen, mit dem Hinweis der Polizei: „Hier hat jemand versucht, den sexuellen Missbrauch eines Kindes anzubahnen“?

Im Jahr 2017 war nur etwa ein Prozent der deutschen Polizisten für Netzthemen zuständig, also für einen globalen, grenzenlosen digitalen Raum mit Milliarden Nutzern. Meiner Meinung nach müssen wir über eine massive Erhöhung des Personals im Netz sprechen – vermutlich in einer Größenordnung von bis zu 20 Prozent .

Es ist aber nicht allein damit getan, dass es mehr Sicherheitsbehörden im Netz gibt?

Ich plädiere für eine Gesamtstrategie, die den digitalen Raum mit der Sicherheit im Straßenverkehr vergleicht und entsprechende Präventionsmaßnahmen anbietet. Das beginnt natürlich mit medienkompetenten Eltern, die, ähnlich wie im Straßenverkehr, ihre Kinder durchs Netz führen – eben so wie sie sie auch über die Straße begleiten – und dabei über Regeln und Gefahren aufklären.

Eltern sollten die Ansprechpartner ihrer Kinder für digitale Themen sein und nicht umgekehrt. Dafür wünsche ich mir eine Art verpflichtenden Medienführerschein für alle Erwachsenen. Wir brauchen Betreiber, die Kinder in ihren Programmen schützen, mit adäquaten Altersbeschränkungen und einen wirksamen Jugendmedienschutz. Ein entsprechender Rechtsrahmen müsste das Miteinander im Netz regeln und Sicherheitsbehörden müssten diese Normen schließlich durchsetzen.

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Welche Rolle spielen dabei die Schulen?

Eine enorme, auch weil jeder dritte Täter mittlerweile ein Kind oder Jugendlicher ist und weil viele Eltern aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, Medienkompetenz zu vermitteln. Ich bezweifele nur, dass Lehrer dafür hinreichend ausgebildet sind. Hier ist die Politik gefragt, die die Rahmenbedingungen setzt und die Diskussion einläuten muss, wie wir unsere Kinder effizient vor Gefahren im Netz schützen können!