So schlecht kann diese Welt doch nicht sein: Wie Ausnahme-Jazzmusiker Jamie Cullum in der Philharmonie die Hoffnung zurückbringt.
Wie „Tommi“ auf JazzJamie Cullum singt Köln eine echte Liebeserklärung

Jamie Cullum in der Philharmonie
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Einen solchen Abend müsste man in diesen Zeiten auf Rezept bekommen. Karl Lauterbach, bitte übernehmen Sie, solange es noch geht! So kitschig der Gedanke sein mag, der ab der Konzertmitte aufblitzt und sich immer mehr im Kopf einnistet, so beschwingt macht er auch: Für eine Welt, die von Menschen mit derart überragenden Fähigkeiten bevölkert wird, besteht durchaus noch Hoffnung.
Was für ein Happening am Montag in der ausverkauften Philharmonie, viel zu kurze 120 Minuten lang, musikalisch schlichtweg grandios. Auch Jamie Cullum muss sich am Ende mindestens eine Träne aus dem Gesicht wischen. Dann improvisiert er spontan noch eine kleine Liebesballade auf Köln am Flügel, dichtet Zeilen auf die Stadt, die ihm das Gefühl gebe, zuhause zu sein. Ein Gefühl wie bei „Tommi“ von AnnenMayKantereit, nur auf Jazz halt. Und nein, das macht er nicht nach jedem Konzert.
Ob der Platz über der Philharmonie wieder einmal abgesperrt worden war, um hörbare Erschütterungen nach unten zu vermeiden? Falls ja: war komplett unnötig. Im Gegenteil: Niemanden im Saal hätte es sonderlich verwundert, wenn Cullum, der in wilden Passagen am Flügel mit den Füßen aufstampfte, um dann beide wie bei einem Hochsprung gleichzeitig anzuheben, vor lauter Energie plötzlich nach oben in Richtung der Ufo-förmigen Decke geschwebt wäre – mitsamt Instrument. Und sich dieses Ufo dann mit einem Knall abgelöst hätte, um weiter Richtung All zu schweben.
Wann ist das Publikum in der Philharmonie bis in die allerletzte Reihe zuletzt komplett ausgeflippt?
Wann ist das Publikum in der Philharmonie bis in die allerletzte Reihe zuletzt komplett ausgeflippt, weil jemand befahl, zu tanzen, als ginge es um das eigene Leben? Ist das überhaupt schon einmal vorgekommen? Fragen über Fragen! Eine Frage hat der Brite auch an seine „Liebchen“ im Kölner Publikum, nach einem Kollektivlob für die Deutschen, die gute Musik deutlich mehr zu schätzen wüssten als Menschen anderswo. „Ich mach das jetzt seit 21 Jahren“, ruft der 45-Jährige, der immer noch so aussieht wie mit 24, in den Saal – ob man ihm bitte noch 20 weitere Jahre im Musikgeschäft gönnen könnte? „40“, ruft ein Zuschauer. Cullum überlegt kurz: „Dann bin ich in meinen Achtzigern, dürfte noch funktionieren.“
Man schließt den Ausnahmemusiker auf Anhieb ins Herz, was neben seiner unverstellten Freundlichkeit auch am unverhohlenen Entzücken für die eigene siebenköpfige Band liegt. Hier spielen nicht ein Star und seine anonyme Hintergrundband, sondern eine verschworene und gnadenlos gute familiäre Einheit: Schon in den ersten Minuten stellt Cullum seine Sippe einzeln namentlich vor, feiert sie wie ihr größter Fan vom Bühnenrand bei den diversen Soli frenetisch ab. „Ihr könnt euch sehr glücklich schätzen“, erklärt er seinem Publikum. Musikalisch beginnt der Abend rockig-bluesig mit dem Song „Taller“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 2019. „Ich wäre gerne größer – und weiser“ singt der gerade einmal 1,64 Meter große, jungenhafte Cullum selbstironisch. Unglaublich, wie tief dieser ja doch eher schmächtige Superstar seine Stimme in den Bariton fallen lassen kann.

Jamie Cullum - in seiner Heimat Großbritannien ein Star leider auch der Klatsch-Magazine.
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Seine Stimme wird eingebettet von seinem Gesangs-Duo, das Stimmgewalt mit Sexappeal und Knuffigkeit kombiniert: Nach zwei Konzertstunden dürfte der Halbmarathon absolviert sein vom vielen Tanzen auf der Stelle. Cullum wirft sein schwarzes Jackett schon nach wenigen Minuten in die Luft und verschwendet sich in Köln dann auf vielen Ebenen: tanzend, singend, hüpfend. Fast wie nebenbei spielt er auf dem Flügel, springt manchmal fast im Sekundentakt wieder davon auf, läuft als Grüß-August durch die Reihen, schüttelt Hände, grüßt sogar die erstaunten Platzanweiser und hat noch Zeit für etliche Selfies mit Fans beim Singen.
Ein neues Album hat der Entertainer zum Auftakt seiner Europa-Tournee nicht zu bewerben, sein letztes, ein Weihnachtsalbum, ist fünf Jahre alt. Dafür spielt sich Cullum durch seine eigene Musikgeschichte und hat etliche Cover mitgebracht – wobei covern ein zu schwaches Wort ist bei Cullum, dessen Versionen nicht selten besser sind als das Original – so wie „Don't stop the music“ von Rihanna etwa oder „Shape of you“, den Welthit von Ed Sheeran. Diese Gassenhauer spielt er in Köln leider nicht, dafür aber eine fröhliche Version von „Killing in the name of“ von „Rage against the machine“ mit Trompeten-Fanfaren und Synthesizer-Solo, „What'd I Say“ von Ray Charles und „Everybody wants to be a cat“ von Scatman Crothers aus dem „Aristocats“- Film.
Nicht Kokain, sondern die Geliebte gebe ihm den Kick, singt er in „I get a kick out of you“ von Cole Porter. Das Kölner Publikum weiß nach drei Zugaben genau, wem es seinen Kick zu verdanken hat. Wenn die Philharmonie in ein paar Jahren für viel Geld saniert werden muss, sollte Jamie Cullum bitte dringend zur Abriss-Party eingeladen werden.