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Jazz aus KölnKlangreisen mit heftiger Sogwirkung

Lesezeit 4 Minuten
Der Kölner Jazz-Musiker Matthias Schriefl auf der Bühne.

Der Kölner Jazz-Musiker Matthias Schriefl auf der Bühne.

Das bieten die neuen Jazz-CDs von Matthias Schriefl, Laura Totenhagen, Stefan Schönegg und anderen. Unsere Kritik.

Oft geschieht es, dass Matthias Schriefl sein Publikum zum Lachen bringt. Er sei halt ein lustiger Musikant, heißt es, ein bayerischer Barde im exzentrischen Outfit, ein wenig Karl Valentin, ein wenig Frank Zappa, voller Ideen und mit „kuriosen“ Instrumenten wie dem Alphorn. Das alles ist nicht falsch, stigmatisiert den in Köln ansässigen Allgäuer freilich eher als „unernst“ und übersieht, welch grandioser Musiker Matthias Schriefl ist. Der Trompeter, Komponist und Arrangeur ist ein leidenschaftlicher, empathischer Weltenwandler, der beharrlich dazu einlädt, über Zäune und Tellerränder zu blicken, quasi nach dem Motto: Die Welt ist groß, und Rettung lauert überall.

Auch Matthias Schriefls aktuelles Album „Allgäu Meets India“ zeugt von seiner großen Gestaltungskunst

Auch Schriefls aktuelles Album „Allgäu Meets India“ zeugt von seiner großen Gestaltungskunst. Der Konzertmitschnitt mit der hr-Bigband beim Deutschen Jazzfestival entstand bereits 2018, nun zählt er zu den herausragenden Jazz-Veröffentlichungen des aktuellen Jahres. Stile und Formen, Einschübe und Zitate verbinden sich zum brodelnden Mix aus Improvisationen, alpiner Folklore und indischen Klangfarben. Während sich Schriefls langjähriger Weggefährte Amith Nadig auf seinen Bambusflöten souverän gegenüber dem satten Blech behauptet, schlägt Sängerin Sarah Buechi im schweizerdeutschen Dialekt gar eine Brücke nach Burkina Faso: In „Pour Norbert Zongo“ amalgamieren Glockengeläut, Bernhard-Herrmann-Referenzen à la „Taxi Driver“ und solistische Glanzleistungen von Trompete und Stimme zur Elegie auf den 1989 ermordeten Journalisten.

Was verbindet solch weltmusikalische Avantgarde mit dem neuen Salomea-Album „Good Life“? Gewiss mehr, als man anfangs denkt – und vor allem, wenn man sich durch den Freigeist Schriefl zu einem offenen Hören angeregt fühlt. Komplex verzahnen Sängerin Rebekka Salomea Ziegler, Yannis Anft (Keyboards), Oliver Lutz (Bass) und Leif Berger (Schlagzeug) Rhythm’n’Beat, Ambient, Fusion oder HipHop zu einem höchst eigenständigen Sound. Und so steht auch „Good Life“ für jenes faszinierende Momentum des „Anything Goes“ im Jazz: keine eklektizistische Kunst um der Kunst willen, vielmehr musikalisch schubladenfreie, jederzeit aber verbindliche Welterkundung. Rebekka Salomea Ziegler singt von Herkunft und Familie, emotionalen Bindungen, dem Schmerz des Abschieds sowie der grundlegenden Freude am Dasein. Die kompakten, dabei facettenreichen Songs verweben sich zu einer Suite um Aufbruch und Ankommen, wobei die Sängerin stets den guten Rat ihrer Oma beherzigt: „Have fun with your group!“

Abseits vertrauter Gesangstraditionen setzt Laura Totenhagen ihre phänomenale Stimme ein

Rebekka Ziegler und Laura Totenhagen singen gemeinsam im Avantgarde-A-Cappella-Ensemble „Of Cabbages and Kings“, ansonsten gehen beide selbstbewusst ihre eigenen Wege. Abseits vertrauter Gesangstraditionen setzt Laura Totenhagen ihre phänomenale Stimme mäandernd als vielschichtiges Instrument ein, mal rhythmisch, mal verfremdet, verzerrt durch elektronische Effektpedale, wild, dissonant, dabei spielerisch-verspielt, getragen von sinnlicher Freude am intuitiven Reagieren. In Zwiesprache mit DoYeon Kim, Lucy Liebe, Sara Schoenbeck, Nick Dunston und Anton Kaun entwickelte Laura Totenhagen in fünf Sessions experimentierfreudig-exzentrische Klangminiaturen, die sich in Auszügen auf dem Digitalalbum „Raw“ wiederfinden. Im nächsten Jahr soll es schrittweise um weitere Ausschnitte aus den Sessions ergänzt werden und wird sich vielleicht erst dann vollends erschließen.

Laura Totenhagens skulpturales Kunst-Stück lebt viel von den Spontanreaktionen während eines Bühnenauftritts. Komplett improvisiert während eines Konzerts in Amsterdam wurde das (Vinyl-)Album „Vehicle/Passenger“ von Bassist Florian Herzog, Schlagzeugerin Lesley Mok sowie Saxofonist, Dichter und Elektroniker Marc Alberto. Was Herzog, einer der umtriebigsten Aktivposten des Kölner Jazz, verschmitzt als „spoken word improvised queer anarchist free jazz hip hop” bezeichnet, entwickelt sich aus einem stetig intensiver und dichter werdenden Flow als Klangreise mit heftiger Sogwirkung. Pulsierende Bass-Grooves, hochenergetische Rhythmen und die drängend vorgetragene Poesie um soziale Entfremdung und Verunsicherung verknüpfen sich zu einem stupenden Kollektivwerk.

Wer bis hierhin mitgegangen ist, der sollte noch einen weiteren Schritt tun und dem Kontrabassisten Stefan Schönegg durch sein dreiviertelstündiges Opus „On the withered tree a flower blooms“ folgen. Auch die jüngste Klangerforschung seines Ensembles Enso ist mit dem Begriff „zeitgenössische Kammermusik“ kaum zu fassen: Was Schönegg am Kontrabass, Maries Debacker am Klavier und Etienne Nillesen auf und mit der Snare Drum an „Geräusch-Farben“, ostinativen Rhythmen und haarrissfeinen Verästelungen zaubern, ist nichts weniger als die aufregende Annäherung an die Essenz von Stille, Zeit, Raum und Geduld.

Nach Matthias Schriefl, Salomea, Laura Totenhagen und „Vehicle/Passenger“ steigt man sozusagen in ein reinigendes Bad, wird erfrischt und neu sensibilisiert für das, was improvisierte Musik bieten kann. Beispielsweise auch als die herrlich harmoniereiche Trio-Musik von Trompeterin Airelle Besson, Pianist Sebastian Sternal und Schlagzeuger Jonas Burgwinkel, die auf „Surprise!“ ganz ohne Kontrabass auskommen. Um mit Rebekka Zieglers Großmutter zu sprechen: „Have fun with your group!“


Matthias Schriefl & Frankfurt Radio Big Band: Allgäu meets Indian. Bezug über jazzwerkstatt.eu

Salomea: Good Life. Papercup Records. Auch Vinyl.

Laura Totenhagen: Raw. totenhagen.bandcamp.com/album/raw. Auch Vinyl.

Marc Alberto/Lesley Mok/Florian Herzog: Vehicle/Passenger – Live in Amsterdam. vehiclepassengher.com. Nur Vinyl.

Stefan Schönegg: A Simplified Space & On the withered tree a flower blooms. Impakt Records

Arielle Besson/Jonas Burgwinkel/Sebastian Sternal: Surprise! Papillon Jaune Records.