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Jazz in KölnAuf diesen Alben ist das Altsaxofon der Star

Lesezeit 4 Minuten
Karolina Strassmayer schaut in die Kamera.

Die Kölner Altsaxofonistin Karolina Strassmayer

Neue Einspielungen von Kölner Jazzgrößen wie Angelika Niescier, Karolina Strassmayer und Family of Choice. Unsere Kritik.

In Ridley Scotts Film „Blade Runner“ zeigt der sterbende Replikant Roy Batty unerwartet tiefe Empfindungen. „Ich habe Dinge gesehen“, sinniert er, „die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen…“ Wie alles daran war das Tannhäuser Tor pure Erfindung, doch mit den Jahren wurde es zum Sinnbild für entrückte Schönheit, die für Menschen unerreichbar bleibt und sie doch nie ruhen lässt.

„Tannhauser Gate“ heißt ein Stück auf dem Album „Beyond Dragon“ von Altsaxofonistin Angelika Niescier, Cellistin Tomeka Reid und Schlagzeugerin Savannah Harris: eine grandiose, die Sinne herausfordernde Trio-Session, bei der sich die Instrumente organisch miteinander verbinden, ebenso wild wie präzise, so temperamentvoll wie sensibel, selbst in den freiesten Passagen getragen von entrückter Schönheit. Ständig zerfließen die Grenzen zwischen individueller Kunst und virtuosem Kollektiv, mal druckvollen, mal kammermusikalischen Klang- und Rhythmusexperimenten – fürwahr ein „schwingender Wahnsinn“, um mit „Oscillating Madness“ einen weiteren Titel des Albums zu zitieren.

Angelika Niescier setzt ihre unbändige Energie auch für melodiebetonteren Modern Jazz ein

Dass Angelika Niescier ihre unbändige Energie auch für melodiebetonteren Modern Jazz einzusetzen versteht, weiß man spätestens seit ihrer Beteiligung am „Pannonica“-Album aus der Reihe „Jazz at the Berlin Philharmonic“. Auch im Quintett Canvas des Bassisten André Nendza sprüht ihre Lust an harmoniereichen Improvisationen, die sich ähnlich einbrennen wie einst die „ungehörigen“ Ausbrüche John Coltranes im legendären Miles-Davis-Quintett. Frisch und dynamisch kombiniert André Nendza unterschiedlich pulsierende Jazz-Formen zu seinem ambitionierten Konzeptalbum „5/5/9“. Darauf ist zunächst das Canvas-Quintett mit Niescier, Matthias Bergmann, Martin Sasse und Niklas Walter zu hören, danach folgt das Quintett Plains mit Christine Courvoisier, Maik Krahl, Mike Walker und Christoph Hillmann, bevor sich alle Beteiligten zum Nonett-Ensemble verbinden. Zweimal zu fünft, einmal zu neunt entwickelt Nendza seine raffinierte Klangpromenade, reich an Perspektivwechseln, seelenvollen Improvisationen und dichten Kollektivpassagen.

Noch voluminöser präsentiert sich Joachim Ullrichs Big-Band-Projekt Family of Choice, für das der Saxofonist, Komponist und ehemalige Leiter der Jazzabteilung an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz sein persönliches Dream-Team zusammenstellte. Wobei sich der Albumtitel „Five Simple Songs“ als höfliche Untertreibung erweist, wenn sich Ullrichs fein facettierte Arrangements mit vorzüglichen Solopassagen verbinden. Das Aufeinandertreffen verschiedener musikalischer Charaktere und Generationen habe ihn enorm inspiriert, sagt Ullrich und betont, dass „dieser Ansatz auch heute wieder für die (Kölner) Jazzszene absolut interessant und anregend sein kann“. Reizvolle Vergleiche ergeben sich dank der Soli von Janning Trumann und Moritz Wesp an den Posaunen, Heidi Bayer und Chris Mehler an den Trompeten sowie der improvisatorisch nicht weniger spannenden Auslegungen von Theresia Philip und Roger Hanschel an den Altsaxofonen.

Die Altsaxofonistin Karolina Strassmayer schlägt faszinierend neue Wege ein

Es ist erstaunlich, welch künstlerisch bedeutsamen Stellenwert das Altsaxofon heutzutage im Jazz einnimmt. Lange Zeit eher als kleine Schwester des Tenorsaxofons für zusätzliche Klangfärbungen zuständig, avancierte es über die Jahre zum eigenständigen, innovativen Instrument des progressiven Jazz, auf dem sich nicht nur melodiöse Besonderheiten, sondern vor allem auch abstrakte, mutig dissonante bis atonale Klangräume erforschen lassen. Welch faszinierende Möglichkeiten sich dabei ergeben können, zeigt Karolina Strassmayer: Während sie als markante Stimme im Holzbläsersatz der WDR Big Band mit kraftvollen, soulig unterspülten Soli glänzt, schlägt sie auf dem Album „Speak Your Truth“ im Dreiklang mit Vibrafonist David Friedman und Schlagzeuger Drori Mondlak faszinierend andere Wege ein. Gleich das titelgebende Eröffnungsstück ist eine frei improvisierte Erkundung von Altsaxofon und Schlagzeug im Geiste von John Coltrane und Elvin Jones. Brillante Solo-, Duo- und Triopassagen schließen sich an, die Strassmayer auf Altsaxofon und Querflöte zu einer wunderbaren Klangreise verbindet, was von Ferne an die „Universal Silence“ von Dollar Brand, Carlos Ward und Don Cherry denken lässt.

Abenteuerlustig und risikobereit dringt Altsaxofonist Fabian Dudek immer tiefer in Grenzbereiche vor, wobei sein aktuelles Album kaum noch an Intensität, Dynamik und Expressivität zu überbieten ist. Nach zumeist behutsam suchenden Anfängen verdichten sich die freien Kompositionen drangvoll zu mächtigen Klangwolken, die nur allmählich abregnen und dann leuchtende Strahlen hindurchlassen. Felix Hauptmann grundiert das brodelnde Ganze mit sphärischen, gelegentlich mikrotonal anmutenden Klavier- und Synthesizer-Gebilden, Schlagzeuger Fabian Arend entfesselt ein schier unglaublich kraftvolles Feuerwerk an Mustern und Rhythmen, während David Helms E-Bass jazzrockig brummt, blitzgeschwind Tempo und Stimmung variiert und doch selbst in Dudeks ekstatischsten Ausbrüchen souverän die tonale Grundordnung wahrt. Am Ende steht das in meditativer Ruhe hingetupfte Titelstück „Distant Skies, We Dream“, das sich um eine lyrische Flötenmelodie Dudeks rankt – auch dies „glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor“.


Diskografische Hinweise

Fabian Dudek Quartet: Distant Skies, We Dream (Traumton Records); André Nendza: 5/5/9 (Jazzsick Records); Angelika Niescier/Tomeka Reid/Savannah Harris: Beyond Dragon (Intakt Records); Karolina Strassmayer/Drori Mondlak/David Friedman: Speak Your Truth; Joachim Ullrich & Family of Choice: Five Simple Songs (JazzHausMusik)