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Jessie Reyez in der Live Music HallDieser Sängerin werfen Frauen ihre BHs zu

Lesezeit 3 Minuten
Jessie Reyez am 20.1. 2023 in der Live Music Hall

Jessie Reyez singt in der Live Music Hall neben ihren BH-Trophäen

Die kanadische Singer-Songwriterin Jessie Reyez gilt als kommender Star. In der Kölner Live Music Hall konnte man staunend erleben, wie sie ihr Publikum zur Gemeinschaft eint.

Für den Bruchteil einer Sekunde hält die sonst so unerschütterliche Jessie Reyez inne. Im Laufe ihres Konzerts in der ausverkauften Live Music Hall hat die Singer-Songwriterin auf die Bühne geworfene Sonnenbrillen in Herzchenform aufgefangen, ohne eine Note zu verpassen, hat fotorealistische Porträtzeichnungen von Fangirls in Empfang genommen, in Smartphones gesungen, die Komplimente eines aufgeregten Gatten erwidert, der von seiner Frau mitgeschleppt worden war.

Schier unermüdlich hat sie Vorlagen für Tattoos gezeichnet, auf Anfrage Lieder angestimmt, die gar nicht auf der Setliste standen und vor allem fliegende BHs aufgesammelt und über ihren Mikrofonständer gehängt, etliche BHs in allen Körbchengrößen und Farben und einer ganz aus Liebesperlen.

Aber jetzt, wo es sich die quirlige Kanadierin mit kolumbianischen Wurzeln mit der Akustikgitarre auf einem Barhocker bequem gemacht hat, um mit „Figures“ noch einmal den Hit zu singen, mit dem ihr vor mehr als sechs Jahren der Durchbruch gelang, halten die treuesten Anhänger, es sind nicht wenige, DIN-A4-Zettel in die Höhe, alle mit derselben Botschaft: „Jessie, we are proud of you.“

Jessie Reyez' Stimme bringt ihr Vergleiche mit Amy Winehouse ein

Kurz: die reine Liebe durchströmt die Halle in der Lichtstraße. Ob des erstaunlichen Rapports zwischen Künstlerin und Publikum, vergisst man beinahe zu erwähnen, dass Jessie Reyez ebenso erstaunliche Talente vorzuweisen hat. Ihre tiefe, kraftvolle und attitüdenschwangere Stimme und auch ihr kompositorisches Talent haben ihr bereits etliche Vergleiche mit Amy Winehouse eingebracht.

Die reichen jedoch nicht ganz hin, will man noch ihr ebenso intonationssicheres Falsett und ihre schlagkräftigen Raps miteinbeziehen, die in Köln nur von einer Gitarristin, einem Schlagzeuger und einem Keyboarder begleitet werden. Und als sie mitten im Set in eine spanischsprachige Schmachtballade ausbricht, mit bebenden Lippen davon singt, dass sie nicht die Art von Frau sei, „mit der dich deine Mama sehen will“, stellt man verwundert fest, dass sie auch abseits der Billboard-Charts und R’n’B-Playlisten eine glänzende Karriere hinlegen könnte.

Selbst Jessie Reyez’ dunkelste Rachefantasien entwickeln therapeutische Wirkungen

Außerdem hält Reyez im Gegensatz zur legendären englischen Entzugsverweigerin ihre selbstzerstörerischen Charakterzüge fest im Zaum. Auf ihrem stilistisch weit ausgreifenden Debütalbum „Before Love Came to Kill Us“ dienten ihr vorrangig psychisch verheerende Trennungsgeschichten als Muse; zum Beispiel in „Coffin“, wo sie von einem handgetischlerten Sarg für sich und ihren Bald-Verflossenen träumt und noch dazu den alten Eminem im Rap-Part sein Gift verspritzen lässt.

„Before Love ...“ erschien im April 2020 pünktlich zum ersten Lockdown und schlug trotzdem hohe Wellen. In der Live Music Hall wird jedenfalls jede Zeile emphatisch mitgesungen und eine junge Frau hält ein Schild hoch, auf dem sie der Sängerin mitteilt, dass deren Break-up-Songs ihr geholfen haben, über eine Ex-Freundin hinwegzukommen.

Selbst Jessie Reyez’ dunkelste Rachefantasien entwickeln therapeutische Wirkungen – „Ich schwöre bei Gott, dass du auf deinem Sterbebett an mich denken wirst, ob ich nun da bin oder nicht“, droht sie einem Verflossenen im älteren Stück „Crazy“.

Auf ihrem aktuellen Album „Yessie“ aber ist ihr wichtigstes Gegenüber sie selbst, es geht um Selbstliebe, darum „Ja“ zu sich und – viel wichtiger – „Nein“ zu den vielen Dingen zu sagen, die andere einem aufdrängen wollen. Wie zuletzt Rap-Gott Kendrick Lamar hat auch Reyez den deutschen Selbsthilfeguru Eckhart Tolle für sich entdeckt. Wie Lamar entgeht sie der Kitschfalle, die neben jeder spirituellen Erkenntnis klafft, in dem sie in ihren Lyrics superspezifisch bleibt: Es ist gerade Reyez’ Bereitschaft, auch die weniger schmeichelhaften Aspekte ihres Strebens und Werdens zu teilen, die ihr hohes Identifikationspotenzial ausmacht. Nach anderthalb Stunden fühlte man sich befreit von drängenden Sorgen und kneifenden BHs. Und zudem als echte Gemeinschaft.