Jörg Schönenborn im Interview„Experimente beim 'Tatort' sind lebensnotwendig“
- Jörg Schönenborn ist eit Mai 2014 Fernsehdirektor des WDR und seit dem crossmedialen Umbau der Programmdirektionen im Jahr 2019 Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung.
- Er ist zudem Koordinator Fernsehfilm in der ARD. Am Sonntag lief um 20.15 Uhr im Ersten der zweite Teil des „Tatort"-Jubiläums-Falls „In der Familie“.
- Im Interview spricht Schönenborn unter anderem über das Jubiläum der Krimi-Reihe und die Corona-Pandemie.
Herr Schönenborn, warum funktioniert der „Tatort“ als vielleicht letztes Fernseh-Lagerfeuer der Fiktion?Ich glaube, dass unser Publikum zwei Bedürfnisse hat: Das eine ist, selbst bestimmen zu können, wann man etwas guckt. Das andere ist, dabei zu sein, wenn etwas passiert, also das Bedürfnis nach einem Erlebnis, nach einem Event. Und da ist der „Tatort“ eben das „Date“, das man sich nicht in den Kalender eintragen muss. Denn man hat es im Kopf. Und man ist sich immer ganz sicher, dass man es – unter normalen Umständen – in bestimmten Kneipen gucken, mit seinen Freunden drüber chatten und am nächsten Tag mit Kollegen drüber reden kann. Das ist ein sehr modernes Bedürfnis. Es ist der Segen der langen Geschichte dieser Reihe, dass wir das so gut erfüllen können. Wir tun das sehr bewusst und verzichten im Gegensatz zu anderen Filmreihen darauf, den „Tatort“ vorab in die Mediathek zu stellen. Weil wir dieses Erlebnis nicht unterhöhlen möchten.
Der Jubiläumsfall wurde trotz Corona rechtzeitig fertig, doch wie sieht das perspektivisch? Sehen wir irgendwann nur noch Wiederholungen?
Wir haben das anfangs auch befürchtet, aber im Moment sind wir wieder voll im Produktions-Plan. Trotz der erneuten Corona-Beschränkungen jetzt im Herbst können die Zuschauerinnen und Zuschauer auch im nächsten Jahr mit zirka 37 neuen „Tatorten“ am Sonntag rechnen. Allerdings hat die aktuelle Situation für uns auch eine Kehrseite: Wir müssen für jeden Film mehr Aufwand betreiben. Denn es gilt, Hygienekonzepte einzuhalten, Drehbücher mussten teilweise angepasst werden, um zum Beispiel Aufnahmen auf großen öffentlichen Plätzen mit viel Publikumsverkehr nach Möglichkeit zu vermeiden. Es geht vor allem aber auch um die Sicherheitsvorkehrungen für das gesamte Team am Drehort. Die Maßnahmen müssen ständig an die gesetzlichen Bestimmungen angepasst werden. Trotz allem können wir aber derzeit die Dreharbeiten gut fortsetzen.
Ein Streitpunkt beim „Tatort“ ist ja, wie viele experimentelle Filme es im Jahr geben soll.
Wir haben intern eine Verabredung darüber, wie viele klassische Ermittlerkrimis wir wollen und wie viele Experimente oder Innovationen. Wir wissen, dass die meisten der eher ungewöhnlich gemachten Filme Kritik hervorrufen. Manchmal mögen die Kritiker sie, und das Publikum lehnt sie ab. Manchmal finden beide sie nicht gut. Aber manchmal kommen sie auch gut an. Diese Experimente sind für so eine traditionsreiche Reihe jedoch lebensnotwendig, weil der „Tatort“ auch von Kreativität und Überraschungen lebt. Deshalb hat er von uns auch immer die notwendigen Freiräume für künstlerische Entwicklungen bekommen. Und dazu gehört auch zu akzeptieren, dass nicht immer alle Fans bei jedem Film restlos begeistert sind.
Wie nah dran an der echten Polizeiarbeit muss der „Tatort“ sein?
Schimanski war damals sicherlich eine Beleidigung für jeden „anständigen“ Polizeibeamten. Ein Kommissar wie Murot heute geht sehr viel liebevoller mit Regeln um, aber auch er strapaziert alle Vorschriften, die es gibt. Es gehört eben auch zur Geschichte des „Tatorts“, dass dort immer wieder Grenzen ausgetestet werden. Fiktion ist Verdichtung. Natürlich werden Morde auch nicht in 90 Minuten gelöst – oder in den wenigen Tagen, die es dann in der Erzählung eines Falles in der Regel sind. Und natürlich arbeiten bei einer Mordermittlung viel mehr Menschen mit, die man im Film nicht sieht. Insofern ist auch die Polizeiarbeit im „Tatort“ Verdichtung.
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Wo sehen Sie denn noch Handlungsbedarf, was die grundsätzliche Ausrichtung der Reihe angeht?
Was noch eine Aufgabe ist, die wir erst teilweise erfüllen, ist, divers und vielfältig zu sein. Das ist nicht nur eine Mann-Frau-Frage und eine des kulturellen Hintergrunds. Wir wollen auch viele verschiedene Typen und Milieus sowie unterschiedliche Entwicklungslinien abbilden. Da können wir noch besser werden. Und eine andere Linie, die ich für richtig halte, ist der Schritt in die sogenannte „Provinz“. Der „Tatort“ war mal ein reines Großstadtprogramm. Aber die meisten Menschen leben nicht in Köln oder Hamburg. Münster war ein beispielhafter Schritt raus aus den Metropolen. So etwas wie es der SWR im Schwarzwald begonnen hat, das ist eine gute Entwicklung. Da müssen wir dranbleiben.