Am Sonntag läuft der erste Teil des Jubiläums-„Tatorts”.
Zwei Staatsanwälte sowie ein Krimiautor und Polizist aus Köln haben den neuen „Tatort“ vorab mit uns geguckt – und über das Polizeibild im Fernsehen, Staatsanwälte in protzigen Autos und Ermittlungsfehler gesprochen.
Die Jubiläumsfolge im Faktencheck.
Köln – Ein Donnerstag im November, 14 Uhr. Bernhard Hatterscheidt, Krimiautor und Hauptkommissar bei der Kölner Polizei, erscheint pünktlich am Treffpunkt vor dem Verlagshaus an der Amsterdamer Straße. Die beiden Kölner Staatsanwälte Dr. Julia Quitzau und Bastian Blaut verspäten sich ein wenig. Falsche Abfahrt genommen, jetzt stecken sie in Deutz im Stau. Grelle Xenon-Scheinwerfer nähern sich, die Umrisse eines schwarzen Maserati werden sichtbar. „Da kommen sie“, sagt Hatterscheidt. Er lacht. Sie müssen es einfach sein, im „Tatort“ fahren die Staatsanwälte meistens dicke Autos.
Aber der Sportwagen mit dem Dreizack am Kühler fliegt vorbei. Kurz darauf biegt ein 3er-BMW Kombi auf den Parkplatz ein. Sie sind da.Ja, diese Sache mit den sehr teuren Dienstwagen aus dem Fernsehen, sagt Blaut. Sei leider im richtigen Leben nicht so. „Wäre aber natürlich mein Traum. Aber bitte mit Blaulicht fürs Dach und Polizeikelle im Handschuhfach.“ Haben aber auch nur die TV-Staatsanwälte.
Wir sind verabredet zum „Tatort“-Gucken. Es gibt Chips und Popcorn. Alle drei Gäste sind Fans der Krimi-Reihe. Hatterscheidt freut sich vor allem, wenn eine Folge aus Weimar ausgestrahlt wird, Quitzau mag Köln und Blaut ist Fan der Stuttgarter Ermittler. Für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ unterziehen die Staatsanwälte und der Autor und Polizist den ersten Film der zweiteiligen Jubiläumsfolge „In der Familie“ einem Realitätscheck. Ausgestrahlt wir die Folge am Sonntag um 20.15 Uhr. Deshalb soll an dieser Stelle nicht mehr von der Handlung verraten werden als die ARD selbst vorab preisgegeben hat.
In einem grundsätzlichen Punkt sind sich die Experten schnell einig: Der „Tatort“ soll in erster Linie unterhalten und nicht den wahren Ermittleralltag abbilden. Versteht sich von selbst, kein Zuschauer will dem TV-Kommissar beim Akten kopieren über die Schulter schauen. Aber andererseits ist es ja oft auch so: Je näher ein Krimi der Wirklichkeit kommt, desto höher der Nervenkitzel beim Zusehen.
Er jedenfalls wolle sich sonntagabends einfach nur berieseln lassen, sagt Bernhard Hatterscheidt. Der 54-Jährige ist gleich doppelt vom Fach. Unter der Woche arbeitet er als interner Ermittler, in seiner Freizeit schreibt er Kriminalromane. Er sitzt gerade am zehnten. Die meisten seiner Bücher zeichnen sich durch eine bewusst hohe Wirklichkeitsnähe aus. „Wenn ich beim »Tatort« genau hingucke“, sagt Hatterscheidt, „dann ärgere ich mich ja nur.“
Staatsanwältin Julia Quitzau sagt, sie sitze auch nicht auf dem Sofa und zähle die Fehler. „Sie fallen mir natürlich auf, aber ich kommentiere sie nicht.“ Viel mehr störe sie, wenn die Story zu abgedreht sei. „Ich mag den »Tatort« eher bodenständig, klassisch.“
Bastian Blaut, Abteilungsleiter Kapitalverbrechen und Branddelikte bei der Staatsanwaltschaft Köln, sieht das ähnlich, kann sich aber auch für Nonsens erwärmen. „Den »Tatort« aus Münster finde ich zum Beispiel total unterhaltsam. Aber da weiß man ja auch im Vorfeld, was man kriegt.“
In der Jubiläumsdoppelfolge „In der Familie“ ermittelt das Dortmunder „Tatort“-Team um Hauptkommissar Peter Faber gemeinsam mit den beiden Münchner Kommissaren Ivo Batic und Franz Leitmayr. Die Geschichte beginnt mit einem Mord. Der italienische Mafioso Pippo Mauro sticht in München einen Dealer ab. Dessen Kind muss zusehen, wie der Vater stirbt. Mauro flüchtet nach Dortmund und findet Unterschlupf bei Luca Modica, der mit Frau und Tochter eine Trattoria betreibt. Das Restaurant läuft nicht gut, aber regelmäßig kommen Lieferungen, die vor Ort umgeladen werden: Kokain, im Auftrag der ’Ndrangheta. Faber und seine Kollegen Nora Dalay und Jan Pawlak ermitteln verdeckt.
Die Kommissare haben in einem Wohnmobil vor der Trattoria Stellung bezogen. Vor ihnen Monitore und ein Laptop. Sie spionieren das Geschehen im Lokal mit Richtmikrofonen und Kameras aus, verstehen aber kaum etwas, die Tonqualität ist zu schlecht. Pawlak steckt sich ein Mikro an die Jacke. Faber: „Und jetzt reinlatschen, schön unauffällig. Guten Hunger!“ – Pawlak und Dalay betreten das Lokal undercover.
„Damit geht’s schon mal los“, sagt Blaut . „Ich habe noch nie einen Kollegen von der Mordkommission mit einem Richtmikrofon in der Hand gesehen.“ Im richtigen Leben hat die Polizei für solche Operationen Experten, die auf Überwachung und Abhörtechnik spezialisiert sind. „Im besten Fall nimmt man ein mobiles Einsatzkommando oder einen Einsatztrupp“, sagt Hatterscheidt. Unklar bleibt auch, warum die Mordkommission in Sachen Rauschgift ermittelt.
Dalay und Pawlak nehmen an einem Tisch im Restaurant Platz. In der hintersten Ecke, nebeneinander. Mit Rundumblick ins Lokal. Pawlak befestigt eine Wanze unter dem Tisch.
„Total auffällig“, sagt Blaut. „So sitzt doch kein normales Pärchen.“ Und was die Wanze betrifft, dämpft Staatsanwältin Quitzau gleich mal die Erwartungen. „Man würde damit nur den unmittelbaren Bereich am Tisch abdecken“, sagt sie, „aber nicht hören, was zwanzig Meter weiter gesprochen wird. Nicht bei dem Lärmpegel.“
Als Kommissar Pawlak kurz darauf zu einer ausgedehnten Erkundungstour durch das Lokal aufbricht und einen Mitarbeiter, der einen Lkw entlädt, scheinbar beiläufig fragt: „Kriegen Sie das alles aus Italien?“, muss Bastian Blaut lachen. „Der kann sich eigentlich auch gleich ’ne Jacke anziehen, wo »Polizei« drauf steht.“
Was in dieser Szene als spontane Undercover-Aktion der beiden Kommissare rüberkommt, wäre im wahren Leben gründlich vorbereitet. Für eine solche Überwachung wäre – außer richterlichen Beschlüssen – eine Vielzahl an Beamten und jede Menge Technik notwendig. Seine Runde durchs Lokal hätte Kommissar Pawlak sich dann sparen können – einen Grundriss des Gebäudes hätten sich seine echten Kollegen im Vorfeld zuallererst besorgt.
Besprechung im Dortmunder Polizeipräsidium. Die Kommissare Faber, Dalay, Pawlak und Martina Bönisch diskutieren den Ermittlungsstand. Im Hintergrund sitzt ein weiterer Mann, dessen Rolle nicht ganz klar ist. Er heißt Matuschek. Bönisch: „Der Laster gehört einer Autovermietung in Parma, scheint alles völlig legal.“ Faber: „Das muss aber nix bedeuten.“ Matuschek: „Als Beweismittel taugt das nichts.“ Faber: „Wir haben einen Gerichtsbeschluss für die Abhörung.“ Matuschek: „Und im Prozess haut Ihnen der Anwalt das um die Ohren. Es liegt nichts vor, dass das Lokal von diesem Verdächtigen als Umschlagplatz von Drogen genutzt wird.“
Alles in allem eher ernüchternd also. Auf jeden Fall aber eine ziemlich dürftige Beweislage für eine so großangelegte Observation. Ob ein Richter die Aktion genehmigt hätte?Die beiden Kölner Staatsanwälte und den Hauptkommissar in der Redaktion treibt aber erst einmal eine ganze andere Frage um. Wer ist dieser Matuschek, der dem Dortmunder Ermittlerteam da den Kopf wäscht? „Von seiner schlechten Laune her und der Tatsache, dass er da so bei der Polizei herumlungert, spräche viel dafür, dass das der »Tatort«-Staatsanwalt ist“, sagt Blaut. Einerseits. Andererseits: „Faber sagt ja, die hätten einen Gerichtsbeschluss für die Abhörung“, sagt Quitzau. Und die müsste der Staatsanwalt eigentlich selbst beantragt haben. „Aber jetzt fragt er die Polizisten: Was machen Sie da eigentlich? Passt irgendwie nicht.“
Also ist es doch nicht der Staatsanwalt, eher der Kommissariatsleiter, der Chef der Mordkommission? „Denkbar“, meint Hatterscheidt. „Aber dann würden die sich duzen. Wir duzen uns eigentlich alle in einem Kommissariat.“Die Rolle bleibt vorerst mysteriös.
Auch Kommissar Pawlak beschleichen inzwischen Zweifel, dass die Abhöraktion legal ist. Also hat Faber dem besorgten Kollegen ein Dokument ausgedruckt, das Kommissarin Bönisch nun kritisch prüft. Es handelt sich um eine „Verlängerung für die Genehmigung für den Einsatz von Abhörsendern“. Bönisch gibt Pawlak Recht: „Ohne richterlichen Beschluss ist nichts verwertbar.“ Pawlak: „Das habe ich auch gesagt. Aber Faber ist der Meinung, dass sich irgendwas ergeben wird und von da aus guckt er weiter.“
Allgemeines Gelächter. „An dieser Stelle würde ich gerne die Staatsanwältin aus Münster hören“, sagt Bastian Blaut – die mit der rauchigen Stimme: „Haben Sie den Verstand verloren, Thiel?“
Hatterscheidt vermutet: „Der hat sich die Genehmigung selber ausgestellt, der Faber. Ein Beschluss vom Gericht sieht jedenfalls anders aus.“
„Die haben nichts“, fasst Julia Quitzau zusammen, „gar nichts.“ Blaut stimmt zu: „Die fischen total im Trüben. Auf dieser Grundlage ist der Einsatz eines verdeckten Ermittlers gar nicht denkbar. Wenn überhaupt, ginge das erst, wenn die konkrete Hinweise hätten, dass die Trattoria ein Drogenumschlagplatz ist.“
Und plötzlich stehen die Münchner Kommissare Batic und Leitmayr im Dortmunder Präsidium. Sie präsentieren ihren verblüfften Kollegen einen Haftbefehl für Pippo Mauro – jenen Mafioso aus München, den der Restaurantbesitzer aus dem Ruhrpott bei seiner Familie versteckt.
Die Dortmunder Ermittler sind nicht begeistert. Die Beweislage gegen den Wirt, der mutmaßlich seine Finger beim Kokaindeal mit im Spiel hat, ist dünn. Wird Mauro nun auch noch verhaftet, so fürchten sie, fliegt ihre gesamte Observation auf. Es folgt ein erregter Disput mit den Kollegen aus Bayern.
Faber: „Wenn Seppl und Kasper reinlatschen und den Mauro festnehmen, war alles für die Katz.“
Leitmayr: „Freilich nehmen wir den jetzt fest. Ich weiß gar nicht, wo da der Handlungsspielraum sein soll.“
Bönisch: „Also Moment mal, ich wäre jetzt gerne mal in Kenntnis der kompletten Sachlage bitte.“
Batic: „Sind Sie das nicht? Wer leitet denn hier die Ermittlungen? Wenn man das überhaupt so nennen möchte.“
Wieder große Erheiterung. Den drei echten Ermittlern gefällt’s. Blaut spottet: „Vollchaos in Dortmund.“
Die Observation hat sich zum großen, zum sehr großen Lauschangriff auf die Trattoria und die Betreiberfamilie ausgeweitet. Kommissarin Dalay gewinnt das Vertrauen der Ehefrau. Die gesamte Aktion droht, spektakulär aus dem Ruder zu laufen – auch, weil Faber an seinen, nun ja, unorthodoxen Ermittlungsmethoden festhält.
Matuschek schnauzt Faber an: „Aus der Sache kommen Sie nicht mehr raus.“
Bönisch, tapfer: „Wir bleiben dran.“
Bastian Blaut reicht’s . Der 45-Jährige lehnt sich im Sessel zurück und schneidet mit der flachen Handkante scharf durch die Luft: „Kein einziger von denen wird an irgendwas dranbleiben. Komplett abgelöst. Das ganze Team. Beamtenrechtlich untragbar.“
Zustimmung von allen Seiten. Auch wenn natürlich im wahren Leben nicht die Staatsanwaltschaft über disziplinarische Maßnahmen bei der Polizei entscheidet, sondern die Polizei selbst.
„Im »Tatort« wird es oft so dargestellt, als hätten wir die Dienstaufsicht über die Polizeibeamten, als könnten wir sie suspendieren oder so“, sagt Julia Quitzau. „Aber das ist nicht unser Aufgabenbereich.“ Erst wenn Polizeibeamte Gesetze verletzen, kommt die Anklagebehörde ins Spiel, als so genannte Herrin des Ermittlungsverfahrens.
„Faber würde bei mir auf dem Schreibtisch landen“, ist auch Hauptkommissar Hatterscheidt überzeugt, der interne Ermittler. Als Schriftsteller macht er den Drehbuchautoren ein Kompliment: „In einem Krimi würde ich das so ähnlich schreiben. Die überraschende Wendung am Ende ist super, vor allem als Cliffhanger für den zweiten Teil.“
Der Jubiläums-Tatort
Luca Modica führt mit seiner Ehefrau Juliane eine Pizzeria in Dortmund. Das Restaurant läuft nicht gut, aber regelmäßig kommen Lieferungen, die vor Ort umgeladen werden: Kokain, im Auftrag der ’Ndranagheta. Ihre 17-jährige Tochter Sofia weiß nicht, woher das Geld stammt, von dem die Familie lebt. Plötzlich taucht Pippo Mauro auf. Er hat in München einen Mord begangen. Luca muss ihm Unterschlupf bieten, die 'Ndrangheta verlangt es. Pippo bringt Luca auf Geschäftsideen und dieser wittert das große Geld. Gleichzeitig drängt Juliane Luca, endlich aus den illegalen Geschäften auszusteigen. Während die Dortmunder Ermittler Peter Faber, Martina Bönisch, Nora Dalay und Jan Pawlak das Restaurant der Modicas observieren, reisen ihre Münchner Kollegen Ivo Batic und Franz Leitmayr an, um Mauro für den Mord in München zur Rechenschaft zu ziehen.
Sonntag, 29. November 2020, um 20:15 Uhr in der ARD
Und schließlich, auf den letzten Metern, löst sich auch noch das Rätsel um Matuschek auf, der den Dortmunder Kommissaren so beharrlich und mies gelaunt im Nacken sitzt.
Bönisch klopft an eine Bürotür im Präsidium. Sie braucht einen Rat. Auf dem Schild neben der Tür steht: „Matuschek, Staatsanwaltschaft“ und darunter das Logo der Polizei Dortmund.
Nun geht alles durcheinander, Blaut hat resigniert. „Der arbeitet sogar im Polizeipräsidium? Völliger Quatsch.“ Im richtigen Leben ist es anders. Polizei und Staatsanwaltschaft sind zwei verschiedene Behörden. Zwei Chefs, zwei Dienstgebäude. Er selbst, sagt Blaut, sei nur selten bei der Polizei zu Besuch. „Und wenn, dann mache ich das aus Spaß, um zu gucken, ob da ordentlich gearbeitet wird.“ Er lacht.Julia Quitzau ist ein wenig neidisch auf ihre TV-Kollegen. „Die haben irgendwie nie viel zu tun, gehen immer nur mit den Polizisten Kaffee trinken und lassen sich so nebenbei den Ermittlungsstand berichten. Schriftlich läuft da nie was.“Das Gesamturteil der drei Experten fällt am Ende einstimmig aus: starkes Drehbuch, lustige Dialoge, hochspannender Film. Aber eben auch: komplett realitätsfern.