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John Cale in Köln83 Jahre alt und immer noch auf der Suche

Lesezeit 4 Minuten
John Cale spielt Keyboard und singt auf der Bühne des Carlswerk Victoria. Er trägt ein weißes Hemd und Brille.

John Cale im Kölner Carlswerk Victoria a, 6. 4. 2025. 

Der Velvet-Underground-Veteran gab ein unerhört frisches Konzert im Mülheimer Carlswerk Victoria. Unsere Kritik.

Vor mehr als 50 Jahren debütiert John Cale im Londoner Rainbow Room seine radikal entschleunigte Version von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“. Das Arrangement hält sich lange auf Cales Setlist, durchlebt etliche Transformationen: 1977 schockt der Waliser in Croydon einen Saal Speed-befeuerter Punks, als er während der zweiten Strophe ein (bereits totes) Huhn mit einem Fleischerbeil köpft und in die Menge wirft. Nicht weniger verstörend ist eine Performance von 1984 in der Essener Grugahalle: Cale kauert Kokain schwitzend unterm Keyboard, reißt eine Teppichfliese vom Boden, setzt sie sich auf den Kopf und flüstert, brüllt und greint, wie sterbenseinsam er doch sei.

Auch beim nachgeholten Auftritt am Sonntagabend im Mülheimer Carlswerk Victoria – vor ein paar Wochen musste Cale wegen eines grippalen Infekts absagen – darf „Heartbreak Hotel“ nicht fehlen. Mit seinen 83 Jahren erscheint der ewige Avantgardist heute um Einiges fitter und entspannter als während seiner frühen Drogenjahre, dementsprechend weniger abgeranzt wirkt das Presley'sche Hotel. Aber nicht weniger einsam. Cales Keyboard klingt nach Fender-Rhodes-Piano und die Akkorde, die er greift, erinnern an die Spätphase des elektrischen Miles Davis: bedrohlich, unheilschwanger, apokalyptisch.

John Cale steht nun schon im achten Jahrzehnt auf der Bühne

Gute Laune macht das trotzdem, zeigt es doch, dass der Künstler selbst im achten Bühnenjahrzehnt noch nicht fertig hat. Was gleich das nächste Stück bestätigt. „How We See the Light“ stammt vom aktuellen Album mit dem hinreißend albernen Titel „Poptical Illusion“ und hört sich an, als würden Coldplay „I'm Waiting for the Man“ einen optimistischen Spin gegen wollen. John Cale singt davon, wie man auf seinem Lebensweg immer mal wieder das Licht erblickt. Aber dann, fügt er in seinem noch erstaunlich klaren walisischen Bariton hinzu, „verlieren wir den Verstand und springen über einen Zaun“.

Vor einigen Jahren beklagte er in einem Interview, wie wenig kohärent sein Werk doch sei. Das liegt auf der Hand: Wie will man den Aaron-Copland-Schüler und John-Cage-Mitstreiter mit dem Protopunk und Warhol-Buddy von The Velvet Underground zusammenbringen? Eine üppig orchestrierte Eloge an die eigene Kindheit wie „Child's Christmas in Wales“ mit dem Paranoia-Rock von „Fear Is a Man's Best Friend“? Oder eine üppige Orchester-Suite über den Falklandkrieg mit seiner aufs Allerwesentlichste reduzierten „Music for a New Society“?

06.04.2025
Köln:
Konzert von John Cale im Carlswerk Victoria
Foto: Martina Goyert

John Cale im Carlswerk Victoria

In Köln hat Cale diese Inkohärenz zum Prinzip erhoben, vom lässigen Indie-Rocker („Shark-Shark“) – dem einzigen Stück, für das der Musiker zur E-Gitarre greift – zum sperrigen Kriegskommentar („Letters from Abroad“) zum Sprechgesang mit Südseegitarre („Setting Fires“), vom eisig-brüchigen Nico-Cover „Frozen Warnings“ zu „Villa Albani“ einem fast vergessenen Stück aus einer längst vergriffenen Platte, das Cale mit seinen drei Mitstreitern an Gitarre, Schlagzeug, Bass in einen ausgedehnten Jam überführt, so mitreißend und unberechenbar wie das gesamte Konzert.

John Cale hat die aus der Fluxus-Bewegung entstandene Avantgarde-Musik mit der elektrifizierten Bratsche in den Rock'n'Roll eingeführt, gemeinsam mit Lou Reed zwei Alben aufgenommen, mit deren Einfluss sich bestenfalls die Beatles messen können, er hat als ungewöhnlich empathischer Produzent die Karrieren von Nico, Iggy Pop, Patti Smith und Jonathan Richmans Modern Lovers mit auf den Weg gebracht. Und, nebenbei, mit seiner Soloklavier-Interpretation Leonard Cohens Über-Song „Hallelujah“ der Vergessenheit entrissen und zur heutigen Allgegenwärtigkeit geführt.

Mit anderen Worten: Er könnte seinen mit ihm gealterten Fans deren Lieblingsstücke vorspielen und sich als überlebende Legende feiern lassen. Stattdessen hört man im Carlswerk nur ein weiter, immer weiter: Neue Songs, darunter einer, den er erst im Februar der Öffentlichkeit vorgestellt hat, wechseln sich mit älteren Deep Cuts ab, die sich nur auf 40 Jahre alten Live-Alben finden.

Das ist alles andere als enttäuschend, es wirkt unverhofft vital. Wäre John Cale ein Star, könnte er sich eine solche Setlist wohl kaum leisten, aber als ewig neugieriger Allround-Musiker beweist er, dass er noch über jeden Zaun springen und das Licht erhaschen kann. Zum guten Beschluss, wie der Hesse sagt, klopft Cale das erwähnte „I'm Waiting for the Man“ aus den Tasten, setzt dem bekannten Text ein „I'm still waiting!“, „ich warte noch“, hinzu: eine Ode an die Rastlosigkeit.