In einem kafkaesken Verfahren wurde der russische Menschenrechtler Juri Dmitrijew zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Tochter berichtet.
Menschenrechtler Juri Dmitrijew„Ich finde die Kraft, weiterzuleben und für seine Freiheit zu kämpfen“
Ein Historiker entdeckt im Nordosten Russlands Massengräber aus der Stalin-Zeit. Er veröffentlicht Biografien und initiiert einen Gedenktag, Hunderte Angehörige sind glücklich. Er entdeckt weitere Massengräber, internationale Medien berichten. Die Geschichte lebt – allerdings nicht nur, weil kugeldurchlöcherte Schädel das Grauen des Großen Terrors bezeugen. Der Entdecker der Gräber, Juri Dmitrijew, ist jetzt im Visier des russischen Machtapparats.
Pflegetochter Natascha kränkelt und ist untergewichtig, als Dmitrijew und seine Frau das Mädchen adoptieren. Ein Arzt rät, ihre körperliche Entwicklung zu dokumentieren. Es gibt Fotos auf dem Computer von Dmitrijew, die Natascha unbekleidet zeigen. Als Juri Dmitrijew im Dezember 2016 verhaftet und sein Computer beschlagnahmt wird, kommt es zur Anklage. Ein Gutachten stellt fest, es handele sich um Alltagsfotos, keine Pornografie. Natascha erinnert sich an keinerlei seltsame oder übergriffige Handlungen. Ein städtisches Gericht spricht ihren Pflegevater frei. Ein übergeordnetes Gericht verurteilt ihn schließlich doch.
Dmitrijews Tochter Katerina Klodt erzählt beim Videochat, sie wäre fast an dieser Geschichte zerbrochen
Er wird zu dreieinhalb, später zu 13, schließlich zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. So geht die Kurzversion der kafkaesken Geschichte des renommierten Menschenrechtlers und Stalinismusforschers Juri Dmitriew.
Dmitrijews Tochter Katerina Klodt erzählt beim Videochat, sie wäre fast an dieser Geschichte zerbrochen. „Als mein Vater in Untersuchungshaft war“, sagt sie, „habe ich sehr viel geweint. Ich konnte einfach nicht über die Ungerechtigkeit seiner Inhaftierung hinwegkommen. Ich kann es bis heute nicht.“ Man merkt es ihr an. Oft fehlen ihr während des rund eineinhalbstündigen Gesprächs die Worte. Über ihr eigenes Befinden sprechen möchte sie lieber nicht. Nur so viel: „Ich finde die Kraft, weiterzuleben und für seine Freiheit zu kämpfen.“
Lieber spricht sie über ihren Vater. „Er war und ist immer noch einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Er hat mir nie gesagt, wie ich mein Leben leben soll, aber er hat immer ein offenes Ohr und einen Rat für mich. Selbst jetzt, wo er mit Unterbrechungen seit acht Jahren im Gefängnis ist, muntert er mich auf, wenn wir telefonieren.“
Ihre Kindheit beschreibt Katerina Klodt als „unbeschwert und glücklich“. Ihre Eltern hätten viel gearbeitet, „andererseits hatten sie viel Zeit für uns. Mein Vater hat uns Grenzen gesetzt, gleichzeitig war er sehr fürsorglich und aufmerksam. Er hatte immer Zeit für meine Fragen und hat mir alles erklärt, was ich wissen wollte – und das war viel.“
Das habe auch für den Umgang mit Pflegetochter Natascha gegolten, „die im Alter meiner Kinder war und für mich wie ein weiteres Kind“. Natascha nannte Juri Dmitrijew Papa. In der Dokumentation „The Dmitrijew Affair“ der niederländischen Filmemacherin Jessica Gorter ist zu sehen, wie vertraut die beiden sind. Natascha begleitet Juri Dmitrijew in die Kiefernwälder Kareliens, wo er nach Gräbern der Ermordeten aus der Stalin-Zeit sucht, sie sitzt mit ihm am Computer, wenn er auf digitalen Landkarten nach Orten sucht, wo Massaker geschehen sein könnten.
Dass die Familie ein kleines Kind adoptierte und wie eine leibliche Tochter aufzog, hatte biografische Gründe. Juri Dmitrijew war als Baby auf einer Entbindungsstation von seiner Mutter zurückgelassen worden. Nie erfuhr er, warum. Als er eineinhalb war, nahmen Adoptiveltern ihn auf. Die Urerfahrung begründet auch, warum die Geschichtsforschung für ihn mehr als ein Beruf war. „Jeder Mensch hat das Recht zu wissen, woher er kommt und wo seine Familie begraben liegt“, sagt er in dem Film.
Die Arbeit ihres Vaters habe sie als Kind nicht hinterfragt, sagt Katerina Klodt. Sie war zwölf, als sie mit ihm und Schäferhund Witch in die Wälder an der Grenze zu Finnland fuhr. „Katia und ich haben die Gräber gemeinsam entdeckt“, sagt Juri Dmitrijew im Film. Geahnt, welche Dimension die Entdeckungen hatten, habe sie nicht, sagt die Tochter heute. Einer der Erschossenen, die ihr Vater entdeckte, „war einer meiner Urgroßväter. Ich habe auch in unserer eigenen Familie erlebt, wie bedeutend es ist, Gewissheit zu bekommen über die Geschichte der Vorfahren“.
In dem Dokumentarfilm ist eine Szene zu sehen, in der Katerina mit ihrem Vater schimpft: Er solle nicht öffentlich Putin und das Regime kritisieren – das sei viel zu gefährlich. „Seht ihr, so sieht Zensur in unserer Familie aus“, sagt er daraufhin. Die Tochter macht sich Sorgen um ihren Vater – aber der wischt sie weg, weil er weiter an die Freiheit glauben möchte.
Juri Dmitrijew recherchierte in geheimen KGB-Akten. Was er entdeckte, war die größte der bislang wiederentdeckten Erschießungsstätten – Sandarmoch. In den Jahren 1937 und 1938 wurden in den Wäldern an der Grenze zu Finnland fast 10 000 Menschen ermordet. Tausende Namen und Kurzbiografien veröffentlichte Dmitrijew. Einmal im Jahr organisierte er in Sandarmoch seit 1997 eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer des Großen Terrors. Es kamen Menschen aus der Ukraine, Polen, Finnland und vielen anderen Staaten.
Als 2014 der russische Krieg im Donbass beginnt, verurteilt Dmitrijew auf einer Gedenkfeier, auf der auch ukrainische Flaggen gezeigt werden, den Krieg. In der Folge bekommt er zu spüren, dass das nicht gewünscht ist. Im russischen Staatsfernsehen wird über ihn berichtet. Es heißt, die (inzwischen verbotene) Menschenrechtsorganisation Memorial sei ein „Agent des Westens“, werde auch aus Deutschland finanziert, „um die russische Geschichte zu verdunkeln“. Die Opferzahlen aus der Stalin-Zeit würden von Memorial „künstlich erhöht“.
Als Dmitrijew im Dezember 2016 verhaftet wird, tauchen parallel in Staatsmedien Berichte auf, wonach die Gräber in Sandarmoch von Kriegsgefangenen stammten, die von der finnischen Armee getötet worden seien. Das Regime ist schon lange dabei, die Geschichte umzuschreiben. Stalin soll, wenn nicht rehabilitiert, dann wenigstens totgeschwiegen werden. Personen wie der international bekannte Menschenrechtler und Stalinismus-Forscher Juri Dmitrijew stören dabei gewaltig.
Ein städtisches Gericht spricht Dmitrijew im April 2018 von den Vorwürfen frei. Wegen unerlaubten Waffenbesitzes – man fand bei einer Razzia ein altes Gewehr in seinem Haus – bekommt er indes 2,5 Jahre auf Bewährung. Im Juni wird der Prozess neu aufgerollt. Jetzt werden ihm nicht mehr nur pornografische Fotos zur Last gelegt – es geht auch um sexuellen Missbrauch. Die Adoptivtochter sei isoliert, erinnert sich Katerina Klodt. „Seit dem zweiten Prozess hatten wir keinen Kontakt mehr zu Natascha.“
In den Gerichtsprotokollen ist jetzt eine Aussage von ihr vermerkt, wonach Juri Dmitrijew sie unsittlich angefasst haben soll. „Es ist so absurd“, sagt Katerina Klodt. Ähnlich wie bei dem in Haft gestorbenen Oppositionellen Alexej Nawalny wird Dmitrijews Strafe erhöht – auf 15 Jahre Lagerhaft, die er fast sicher nicht überleben wird.
Mit der Inhaftierung ist Juri Dmitrijew international bekannt geworden. Internationale Medien wie die „New York Times“ und die „Washington Post“ haben über ihn berichtet, Reporter sind mit Klodt zu den Massengräbern gefahren. Seit er im Gefängnis ist, erhält Dmitrijew internationale Preise. Der Film „The Dmitrijew Affair“ von Jessica Gorter wurde 2024 in Budapest als bester Menschenrechtsfilm des Jahres ausgezeichnet. „Es muss alles getan werden, dass mein Vater und seine Arbeit nicht vergessen werden“, sagt Katerina Klodt. „Dabei möchte ich helfen.“
Telefonieren könne sie immerhin fast täglich mit ihrem Vater. „Er sagt mir immer, ich solle mir keine Sorgen machen.“ Sie stockt. Katerina Klodt weiß, dass ihr Vater die Haft wahrscheinlich nicht überleben wird. „Die Geschichte“, sagt sie, „dreht sich einfach im Kreis.“ Das Straflager IK-18 in der Oblast Mordwinien, in dem ihr Vater inhaftiert ist, war während der Stalin-Zeit Teil eines Gulags, in dem 1934 mehr als 30.000 Menschen unter Zwang arbeiteten. 1948 war das Arbeitslager in ein Hochsicherheitsgefängnis für politische Gefangene umgewandelt worden.
In einem Brief aus dem Gefängnis schreibt Juri Dmitrijew, er habe keine Sorge um sein eigenes Leben. „Das Schlimmste ist, dass sie uns Natascha weggenommen haben. Sie hat jetzt keine Familie mehr“, notiert er. Natascha soll jetzt wieder bei ihrer Großmutter leben – jener Frau, die das Mädchen zur Adoption freigegeben hatte. Auch Nataschas Leben sei zerstört worden, sagt Katerina Klodt. „Es ist schlimm, Heranwachsende so zu instrumentalisieren.“ Wenig später klingelt ihr Handy. Klodts Miene hellt sich auf, sie lächelt. „Wir müssen aufhören“, sagt sie. „Papa ruft an.“