Das Kölner „disdance project“ bringt Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei als Stück über den permanenten Krisenmodus auf die Bühne.
Kafka in der Alten WurstereiEin Leben im Maulwurfbau des eigenen Wahns
„Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwo an mich heran.“ Paula Scherf und André Lehnert von „disdance project“ haben Franz Kafkas „Der Bau“ zu einem multimedialen Theaterstück gestaltet. Anders als der Dichter aus Prag legt sich das Duo bei seiner modernen Interpretation des Stoffes fest: Die Person, die hier schon seit Jahren maulwurfgleich einen Bau zum eigenen Schutz eingerichtet hat, ist eine Frau und wird von Paula Scherf verkörpert. Die Schauspielerin und Tänzerin bewegt sich auf der Bühne zwischen einem Monitor-Triptychon, das wie ein kubistisches Gemälde an den unterschiedlichsten Stellen des Bühnenraumes arrangiert ist. Im Hintergrund führt ein düsterer enger Gang in unbekannte Gefilde.
Von dem starren Monolog der literarischen Vorlage ist bei „disdance project“ kaum etwas geblieben
Der Kontrast zwischen der kargen Kulisse des Stückes und der heimeligen Atmosphäre des zauberhaften kleinen Theaters der Alten Wursterei in Neu-Ehrenfeld könnte kaum größer sein. Von dem Frieden, in dem die Bewohnerin des Baues nach eigenen Angaben lebt, ist jedenfalls nichts zu spüren. Unruhig und getrieben, voller Anspannung und mit misstrauischer Miene verteidigt sie ihr Reich. Gegen wen oder was ist dabei nicht auszumachen.
Von dem starren Monolog der literarischen Vorlage ist bei „disdance project“ kaum etwas geblieben. Die Umtriebigkeit der Bau-Herrin, die sich zunehmend als Getriebenheit herausstellt, wird hier, 100 Jahre nach Entstehung des Textes, zum Psychogramm eines Menschen im permanenten Krisenmodus. Sie ist ständig darum bemüht, sämtliche Risiken auszuschalten, ohne gewahr zu werden, dass ihr angstbesetzter (Größen)-Wahn um totale Sicherheit, zum größten Risikofaktor wird.
Das Publikum kann sich während des Stückes in die Rede der Darstellerin einbringen
Befeuert wird dieser Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben durch die auf die Monitore zugeschalteten Portale diverser Influencerinnen, die auf unterschiedliche Weise (Selbst-)Hilfe-Tipps anbieten. Da ist die militarisierte Prepper-Frau, die sich in Camouflage-Kluft für den Tag X rüstet oder die Internet-Astrologin, die ihre esoterische Ware anpreist. Eine freundliche Yoga-Lehrerin versorgt via Internet ihre Community mit Übungshäppchen für den Alltagsgebrauch.
Wie ihre drei Mitstreiterinnen wird auch die „Trad-Women“ mit feiner Ironie in den Videoszenen von Paula Scherf gespielt. Diese vierte Influencerin propagiert die Rückkehr der Frau in tradierte Geschlechterrollen. Eine Sehnsucht nach der angeblichen guten alten Zeit wird hier als „Alternative für Deutschland“ angeboten, als vermeintlicher Ausweg aus dem aktuellen Krisenmodus einer verunsicherten Welt.
Aber nicht nur die Theatermacher und Franz Kafka steuern Texte zum „Bauprojekt“ bei. Dank einer ebenso einfach funktionierenden wie stimmigen digitalen Interaktion kann das Publikum während des Stückes sich in die Rede der Darstellerin einbringen. So ist kaum noch zu unterscheiden, welche Gedanken hier hörbar gemacht werden. Das Ergebnis ist eine faszinierende Fusion unterschiedlicher performativer Mittel, die das Stück zu einem kurzweiligen Theatererlebnis machen. Erkunden Sie also den „Bau“ und besuchen Sie das neue kleine Kölner Theaterkleinod, die Alte Wursterei. Es lohnt sich.
Nächste Termine: 8.+ 9., 15.-17, 22., 23.11., jeweils 19.45 Uhr, Alte Wursterei, Pettenkoferstr. 4, Köln