Pınar Karabulut inszeniert Franz Kafkas „Der Prozess“ im Depot 1 des Kölner Schauspiels. Unsere Kritik.
Kafka-Premiere am Schauspiel KölnDiesen „Prozess“ sollten Sie nicht verpassen
Franz Kafka ist an der Arbeit am „Prozess“ verzweifelt. „Unvollendet, unvollendbar, unpublizierbar“, klagte der Autor seinem Freund Max Brod, seien die Kapitel und Kapitelanfänge, die er in zehn Quartheften zu Papier gebracht hatte. Nur Anfang und Ende standen fest, die Verhaftung von Josef K. in seinem Pensionszimmer und der todbringende Vollzug des Urteils in einem Steinbruch. Der Freund aber hielt das Manuskript für ein Meisterwerk, brachte posthum, was nicht Fragment geblieben war, in eine Ordnung und übergab es der Öffentlichkeit in dieser fixierten Form als vollendeten Roman. Sie stimmte seiner Auffassung bald enthusiastisch zu.
Pınar Karabulut aber interessiert gerade das Unvollendete, das Prozesshafte am „Prozess“, die Hinweise auf vom Autor abgebrochene Szenen lässt sie als Bühnentext sprechen.
In ihrer Dramatisierung des Stoffes, die am Donnerstagabend Premiere im Depot 1 des Schauspiels Köln feierte, führt die Regisseurin die nachträgliche Ordnung der Einzelteile ad absurdum, stellt auch die Abfolge innerhalb einzelner Kapitel um. Ein Besuch im Dom findet nach K.s Ermordung statt, die kokette Leni becirct ihn noch bevor sie ihren ersten Auftritt als Hausmädchen des Advokaten Huld hat.
Franz Kafkas Josef K. tritt in multipler Form auf, wie ein Roboter von Kraftwerk
Genauer gesagt: Zwei Lenis becircen zwei K.s. Nicht nur die Wächter vom Anfang und die Vollstrecker vom Ende des Romans treten paarweise auf, auch Josef K. verdoppelt sich, spaltet sich in zwei, vier, sechs Personen auf, das ist dann schon das gesamte Ensemble: Alexander Angeletta, Nicola Gründel, Yvon Jansen, Lola Klamroth, Bekim Latifi und Sabine Waibel. Mit ihren seitengescheitelten schwarzen Haaren und ihren engen roten Pullovern (Kostüme: Teresa Vergho) erinnern diese multiplen K.s ein wenig an die Mitglieder von Kraftwerk in deren konstruktivistischer Phase: Sie sind die Roboter, die Rädchen im System.
Das scheint hier verrückt zu spielen. Wände werden herein- und herausgefahren, Tore öffnen und schließen sich, Prospekte heben und senken sich, bis sie auf dem Boden zerknittern, ohne einem erkennbaren System zu folgen (Bühne: Michaela Flück). Josef K., wer immer er auch gerade sein mag, rennt panisch in die Kulissen, nur um sich, vom eigenen Doppelgänger gedrängt, rückwärts wieder auf der Bühne einzustellen. Einmal lugt ein Rudel Velociraptoren über eine Wand auf die Beute Mensch.
Dabei hatte Karabulut noch verhältnismäßig linear angefangen, die ersten Roman-Szenen – Josef K.s Verhaftung, die Gespräche mit der Zimmerwirtin und dem Fräulein Bürstner – dem Publikum als surrealen Film präsentiert (Video: Susanne Steinmassl). Aber schon hier schleichen sich Irritationen ein, wechseln sich Angeletta und Latifi von Schnitt zu Schnitt als K. ab, wird sekundenlang eine kuriose S/M-Szene mit Peitsche und Hasenmaske eingeblendet, vollführt die Kamera eine 360-Grad-Drehung im Pensionszimmer, während zwei K.s und zwei Fräulein Bürstners abwechselnd den Dialog aufgreifen.
Das ist die Grammatik von Luis Buñuel und David Lynch, der Abend entwickelt aber einen umso größeren Sog, desto mehr Karabulut den eigenen Stärken vertraut, desto lustvoller sie den vereinzelten Massenmenschen K. mit der Ziellosigkeit seines Daseins konfrontiert.
Die umwerfendste Szene des Abends ist ein Slapstick-Monolog von Bekim Latifi
In der umwerfendsten Szene des Abends weitet sich die Bühne zur riesigen Greenscreenwand – das Leben als indifferente Projektionsfläche, gegen die sich Bekim Latifi wirft, die er mit Anlauf erklimmt, von der er hilflos an einer Hand herunter ragt, während er in Schneller-Vorlauf-Geschwindigkeit die Slapstick-artigen Szenen vor Gericht schildert, der mürrische Beamte, der nach nächtlichem Aktenstudium einen Advokaten nach dem anderen die Treppe hinunterwirft, der Verteidiger, dessen Bein durch ein Loch im Boden des Verhandlungssaals von der Decke des darunterliegenden Raumes zu hängen scheint.
Schließlich wird Latifi am Seilzug in die Höhe gehoben und klammert sich dabei an den Daumen einer riesigen Hand Gottes, die keine Geborgenheit bietet, ihn bestenfalls zwicken will. Es ist ein Solo von beeindruckender Virtuosität, aber Karabulut bietet keine Gelegenheit zum Szenenapplaus.
Während der Ensemblegast seine philosophischen Turnübungen vollzieht, lässt sie Bühnenarbeiter eine ebenfalls grüne Friedhofskulisse aufbauen, in der bereits die anderen K.s Latifi erwarten (um sich daraufhin in eine bellende Hundemeute zu verwandeln): Wer sich hier im Prozess des Prozesses zum Individuum zu verfestigen droht, zerläuft gleich wieder in der amorphen Masse.
Der Abend bietet allen sechs Akteurinnen und Akteuren dennoch ausreichend Gelegenheiten zu einzelnen Kabinettstückchen, sehr lustig etwa Yvon Jansen als ultrajovialer Direktor-Stellvertreter. Unbedingt noch erwähnt sei hier Sabine Weibel, die als bunt berockter Gerichtsmaler Titorelli jedes Quäntchen Komik aus dem Text presst, bevor Josef K. zum Schluss ihres Monologs die Ausweglosigkeit seiner Situation umso gräulicher heimleuchtet.
Übrigens sind es stets die Frauen, welche die wenig vertrauenswürdigen Repräsentanten des Gesetzes spielen, während sich die beiden Männer auf die Rolle des Josef K. beschränken.
Am Ende, nachdem K. „wie ein Hund!“ erstochen wurde, folgt, wie erwähnt, die Szene im Dom: Der Greenscreen zeigt jetzt ein Gittermuster wie auf dem Holodeck vom Raumschiff Enterprise, es ist die Vorhölle als Möglichkeitsraum. Es ist, lautet bekanntlich K.s letzter Gedanke, „als sollte die Scham ihn überleben“.
Nicola Gründel balanciert als K. auf einem schaukelnden Balken, während Lola Klamroth als langhaarige Gefängnispfarrerin die Türhüterlegende vorträgt, den einzigen Teil von „Der Prozess“, den Kafka für veröffentlichungswürdig hielt. „Das Gericht will nichts von Dir“, eröffnet die Kaplanin Josef K., „es nimmt Dich auf, wenn Du kommst und es entlässt Dich, wenn Du gehst.“
Noch einmal schauen uns die Robotnik-K.s mit blutunterlaufenen Augen verzweifelt an, aber Rettung ist nicht in Sicht. Dann ertönt endlich der berühmte Anfangssatz des Romans als Verdammungsformel und schon schließen sich die Türen des Gesetzes. Ein starker Abend, rasant, grotesk, unbarmherzig.
„Der Prozess“, nächste Termine: 3., 5., 13., 17. Dezember, 11., 12., 20. Januar, Depot 1, 110 Minuten, keine Pause