Die Regisseurin und der Schauspieler Alexander Angeletta über ihre Inszenierung von „Der Prozess“ am Schauspiel Köln.
Pınar Karabulut inszeniert in Köln„Kafka und ich hätten gut zueinander gepasst“
„Daniel, warum machen wir nie einen Kafka?“, fragte Pınar Karabulut vor einiger Zeit ihren Bühnenmusiker Daniel Murena. Ja, warum eigentlich nicht? Am Schauspiel Köln hatte Karabulut zuletzt mit poppigen Überschreibungen elisabethanischer Dramen überzeugt. „Edward II.“ war während der Pandemie als mehrteilige Streaming-Serie gelaufen, „Richard Drei“ feierte 2022 im Depot 1 Premiere.
Aber Kafkas Schöpfungen, schätzt die Regisseurin, passen noch viel besser zu den Welten, die sie auf der Bühne erzähle. „Die Leute wissen ja schon langsam, was sie erwartet, wenn Karabulut draufsteht.“ Der Abend, verspricht sie, werde extrem kurzweilig ausfallen, wie ein kurzer, intensiver Traum: „Eigentlich sollte jeder Kafka-Abend so sein.“
Und eigentlich hätte sie sich auch vorstellen können, jeden Kafka-Text zu inszenieren, sei dann aber doch schnell bei „Der Prozess“ gelandet: „‘Der Prozess‘ ist zugleich so surreal und so realistisch wie möglich. Wenn wir zum Beispiel über Behördengänge sprechen, dann ist das doch der größte Naturalismus, mit dem Kafka sie beschreibt. Es mag sich skurril anhören, aber das ist tatsächlich unser Alltag.“
Kafkaesk, glaubt Pınar Karabulut, das beschreibt ein Gefühl
Weshalb auch so viele Menschen, kaum dass sie in die Fänge eines bürokratischen Vorgangs geraten sind, „kafkaesk“ aufstöhnen. Das berühmte Adjektiv, glaubt Karabulut, ist nicht einfach nur ein Label: „Es beschreibt weniger einen Zustand, als ein Gefühl, das einem beim Lesen, Zuschauen, Hören beschleichen kann.“
Und dieses Gefühl, ergänzt Alexander Angeletta, erlebe man genauso beim Spielen. „Wir Schauspieler*innen müssen total schnell sein, das System droht uns ständig zu überholen. Pınar arbeitet oft sehr choreografisch, mit großem Formbewusstsein. Aber dieses Bewusstsein hat sie hier mit noch größerer Konsequenz durchgezogen. Das ist ein großes Uhrwerk, das wir da auf der Bühne aufziehen, und das hat wiederum viel mit dem kafkaesken Gefühl zu tun.“
Für Alexander Angeletta – er teilt sich die Rolle des Josef K. mit fünf Kolleginnen und Kollegen – ist es bereits die sechste Zusammenarbeit mit Karabulut. „Wir haben uns in München kennengelernt“, erzählt Angeletta. „Damals war ich noch beim Jugendclub und Pınar war Assistentin in den Münchner Kammerspielen und deswegen haben wir beide die ‚Prozess‘-Inszenierung von Andreas Kriegenburg gesehen. Das war für mich eine der prägenden Theaterarbeiten, ein Grund, warum ich unbedingt zum Theater wollte.“ Karabulut fügt hinzu: „Wir sind quasi mit Kriegenburg sozialisiert worden. Ich finde auch die Orson-Welles-Verfilmung genial. Aber ich denke beim ‚Prozess‘ immer zuerst an diese Kriegenburg-Ästhetik.“ Jetzt, sagt Angeletta, schließe sich ein Kreis. Und doch sei alles anders, schaue man heute ganz anders auf Kafka.
Weniges in der Literatur hat so viel Interpretationswut ausgelöst wie dessen Werk. Ob man da nicht als Regisseurin vor einer Wand aus Deutungen stehe, zu denen es kaum noch etwas hinzuzufügen gibt? Der einzige Weg führt zurück zum Text. Sie nehme ihre Arbeiten, sagt Karabulut, immer als extrem werkgetreu wahr, selbst wenn sie Fremdtexte verwende: „Weil ich nun mal subjektiv die Welt so sehe oder interpretiere. Ich habe das Gefühl, dass Franz Kafka und ich total gut zueinander gepasst hätten. Wir hätten im selben Café in Prag gesessen und über dieselben Dinge gesprochen.“
Im Vorfeld der Inszenierung hat sie die tschechische Hauptstadt besucht, sich angeschaut, wo Kafka gewohnt hat, ist die Wege nachgegangen, die der Autor vor mehr als hundert Jahren gegangen ist. „Ich habe versucht, ein Gefühl für so diesen melancholischen, jungen Mann zu bekommen, der extrem fein mit der Welt war, ganz empathisch.“
Genau das vermisse sie heutzutage: „Menschen, die empathisch mit ihren Mitmenschen umgehen, die ein Bewusstsein für die Welt haben.“ Kafka, sagt die Regisseurin, habe unheimlich sensibel auf die Welt geschaut, habe die Menschen präzise gesehen und beschrieben. „Er wertet seine Figuren nicht, er hält sie immer in der Waage. Diesen feinen, sezierenden, aber liebevollen Blick, den gibt es selten in der Weltliteratur.“
Im besten Fall, sagt Alexander Angeletta, schaffe man Emotion und einen nüchternen Blick
Gleichwohl lade „Der Prozess“ nicht zum Mitfühlen ein. „Es gibt keine Erlösung, keine Katharsis, auch wenn es am Ende einen Mord gibt. K.’s Schicksal fühlt man nicht wie bei einer griechischen Tragödie, oder bei „Hamlet“ oder bei Lady Anne in „Richard III.“. Es bleibt immer eine kalte Wand.“ Was durchaus eine Herausforderung für sie sei, denn ihr Theater, so Karabulut, funktioniere über Emotionen. „Man spürt das während der Vorstellung im Körper und versteht es vielleicht erst hinterher. Das wird bei Kafka jetzt anders sein.“ Im besten Falle, sagt Angeletta, schaffe man beides, die Emotion und den nüchternen Blick auf Gesellschaftsprozesse, in denen Josef K. gefangen ist.
„K. könnte ja anfangen, über sein Leben zu reflektieren“, sagt Karabulut, „aber stattdessen dreht er sich immer weiter in der Spirale. „Dass der Roman unvollendet geblieben ist, kann man auch als Metaebene verstehen: Er ist selbst ein Prozess, der nie abgeschlossen werden kann. Deswegen könnte man sich unseren Abend auch von hinten nach vorne anschauen, oder mittendrin einsteigen. Die nicht-lineare Dramaturgie war mir wichtig, weil meiner Meinung nach Kafka diese Welt so konzipiert hat, dass sie kreisförmig funktioniert. Wie ein schwarzes Loch, das einen reinzieht.“
Wenn sich die ungute Ahnung, zu kurz zu kommen, übermächtigen Systemen ausgesetzt zu sein, mit der Gewissheit verbindet, über allen anderen Leuten zu stehen, zeige Kafka den typisch eurozentrischen Blick aufs Leben, glaubt Pınar Karabulut: „So werden wir immer noch hier erzogen: Wir gucken von Europa auf die Welt, glauben zu wissen, wie sie Welt funktioniert. Und spüren trotzdem, dass wir das Leben verpassen, weil wir nur noch mit uns selbst beschäftigt sind - und damit, bildlich gesprochen, ständig auf den Fuß von anderen Leuten zu trampeln.“
Das ist das Paradox Kafkas passiver Helden: Sie sind Gewinner des Systems, Josef K. ist stolz auf seine Stellung als Prokurist einer Bank, aber sie werden vom System zerstört. „Die Menschen machen sich selbst die Regeln, die ihnen schaden“, sagt die Regisseurin, „Wer protestiert, wer sagt, dass er ein besseres Leben möchte, der vereinsamt oft.“ „Selbst wenn man sich auflehnt“, sagt Alexander Angeletta, „weiß man doch schon im Voraus, wie die Reaktionen darauf ausfallen werden. Es kommt einem nicht so vor, als würden sich die Dinge wirklich bewegen. Man kommt schwer aus diesen Rollen heraus.“
Josef K., denkt Karabulut, ist ein Mann, der am Patriarchat leidet. „Wenn ich aus feministischer Sicht inszeniere, betone ich immer, dass das Patriarchat ja auch für die Männer langweilig ist, sie leiden genauso darunter. Eigentlich würde Chancengleichheit und Gleichberechtigung auch Männern helfen, sie verlieren nichts dadurch.“
Was uns noch einmal zurück zum Theater bringt, auch ein hierarchisch geordnetes System mit kafkaesken Wendungen. Pınar Karabulut hatte 2013 am Schauspiel Köln als Regieassistentin angefangen, bald darauf war sie eine der ersten Frauen, die ihre Arbeiten im großen Depot 1 zeigen durften. Heute ist sie eine der renommiertesten Regisseurinnen des deutschsprachigen Theaters und in dieser Spielzeit bereits die dritte Frau in Folge, die im Depot 1 inszeniert. „Das wäre nie so passiert“, glaubt sie, „wenn Yvonne Büdenhölzer nicht vor ein paar Jahren die 50-Prozent-Frauenquote beim Berliner Theatertreffen initiiert hätte.“ Es gibt also Auswege aus dem Kafka’schen Karussell, manche Prozesse führen schließlich doch noch zu Ergebnissen.