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Markus Stockhausen über das Leben mit einem Genie„Mein Vater hat Kraft aus dieser Beziehung geschöpft“

Lesezeit 8 Minuten
Karlheinz und Doris Stockhausen halten drei kleine Kinder im Arm.

Karlheinz und Doris Stockhausen mit drei ihrer vier gemeinsamen Kinder.

Sie war die Ehefrau des Komponisten Karlheinz Stockhausen und starb im Juni im Alter von 99 Jahren. Ein Gespräch über Doris Stockhausen und das Drama einer Künstlerehe.

Markus Stockhausen, wir wollen über Ihre Mutter Doris Stockhausen sprechen, die am 20. Juni im Alter von 99 Jahren gestorben ist. Sie stammte, wie man so sagt, aus gutem Hause …

Markus Stockhausen: Sie wurde 1924 in Hamburg geboren, als jüngstes von vier Kindern des Ingenieurs Max Paul Andreae. Er stammte aus einer Frankfurter Kaufmannsfamilie. Ihre Mutter war eine geborene Blohm, Tochter des Werftgründers Hermann Blohm von Blohm & Voss. Sie starb aber leider sehr früh. Meine Mutter war erst sieben und vermisste sie sehr. Und da sie ja aus gutem Hause war, hatte sie Klavier gelernt und dann auch studiert. 1950 machte sie ihr Staatsexamen als Musikpädagogin in Köln. Im Studium lernte sie meinen Vater kennen.

Karlheinz Stockhausen, der einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts werden würde.

Er war zu der Zeit erst 22. Er studierte zunächst Schulmusik mit Hauptfach Klavier, interessierte sich dann aber mehr für Komposition. 1951 heirateten meine Eltern, die Jahre unmittelbar danach waren für beide prägend. Direkt nach der Hochzeit ging mein Vater für ein Jahr nach Paris und studierte bei Olivier Messiaen. Er lernte dort viele andere Komponisten kennen, wie Pierre Boulez, Pierre Schaeffer, Luigi Nono, Luciano Berio und Henri Pousseur. Dieses ganze Umfeld, das sich dann auch bei den Kranichsteiner Musikkursen in Darmstadt Anfang der 50er Jahre traf, war wirklich die Crème der europäischen Neuen Musik. Viele wurden zu engen Freunden meines Vaters. Pierre Boulez war mein Patenonkel und andere wurden die Paten meiner Geschwister. György Ligeti lebte ein halbes Jahr bei uns, als er nach dem Volksaufstand aus Ungarn fliehen musste. Dieses Umfeld prägte unser Zuhause sehr stark.

Man liest, dass die großbürgerlichen Eltern ihrer Mutter anfangs sehr gegen die Verbindung zum völlig mittellosen Stockhausen waren?

Nein, das ist falsch. Der Großvater mochte meinen Vater sehr. Der Rest der Familie war anfangs skeptisch. Einen noch mittellosen Künstler heiraten, das war bedenklich. Aber sie haben die Verbindung keineswegs unterbunden.

Meine Mutter war sehr involviert in das Musikleben und hat meinen Vater enorm unterstützt, trotz der vier Kinder
Markus Stockhausen

Und dass ihre Mutter für Ihren Vater vom evangelischen zum katholischen Glauben übertrat, war auch kein Problem?

Das wurde vielleicht diskutiert, aber mein Großvater war ein Humanist, ein Menschenfreund. Er schätzte meinen Vater sehr und sie haben tiefe Gespräche geführt. Nur als er dann viel später sah, dass die Ehe anfing zu wackeln, hat er meiner Mutter vorausahnend dieses Haus in Köln-Marienburg gekauft, damit sie unabhängig sein konnte.

Am Anfang lebte das frischgebackene Ehepaar aber noch vergleichsweise bescheiden?

Während und nach dem Studium konnten sie sich kaum etwas leisten. Meine Mutter hatte noch keinen Zugang zu ihrem Erbe. Und mein Vater bekam nur selten mal einen größeren Betrag für seine ersten Kompositionen. Zuerst haben sie in einer ganz kleinen Wohnung in Lindenthal gewohnt, später in einer etwas größeren in Braunsfeld, weil wir vier Kinder waren.

Die ihre Mutter mehr oder weniger alleine groß zog?

Meine Mutter war sehr involviert in das Musikleben und hat meinen Vater enorm unterstützt, trotz der vier Kinder und obwohl sie den ganzen Haushalt geschmissen hat. Sie hat auch Klavierunterricht im Haus gegeben, um etwas hinzuzuverdienen. Später hat sie noch Fußreflexzonen- und Atem-Therapie ausgeübt. Immer kamen junge Klavierschüler ins Haus, später auch Patienten. Das war ein Ausgleich für sie.

Ihr Vater hat sein erstes veröffentlichtes Stück Ihrer Mutter gewidmet und darauf noch viele weitere Werke. Sie galt als seine Muse. Aber was heißt das eigentlich? Hat das mehr mit dem geistigen Austausch zu tun, mit der Atmosphäre, die sie um ihn herum schuf, oder schlicht damit, dass sie den Großteil der praktischen Arbeit übernahm?

Vielleicht alles zusammen. An sich ist das ja ein schönes Wort, Muse. Das meint, dass man eine Inspiration erfährt durch einen anderen geliebten Menschen. Die hat mein Vater sicherlich erfahren. Wir haben Briefe gefunden aus der Zeit, als er in Paris war. Lange, innige Briefe, in denen er detailliert über seine Arbeit schreibt. Es war eine ganz wunderschöne, so geistige wie bewundernde Liebesbeziehung. Er hat Kraft aus dieser Beziehung geschöpft und diese Kraft führte zur Inspiration.

Karlheinz und Doris Stockhausen blicken lachend in die Kamera..

Karlheinz und Doris Stockhausen

Auf indirekte Weise?

Sie war ja keine Komponistin, aber sie verstand alles ganz genau. Nur hat ihr Naturell die Klassik nie ausgeschlossen. Also wurde in unserem Haus auch klassische Musik geübt und gespielt. Mein Vater mochte das nicht hören. Das kenne ich von mir auch: Wenn man schöpferisch tätig sein will, dann darf man nicht das Alte hören, dann muss man einen Freiraum haben. Diesen Freiraum hat sie ihm ermöglicht. 1962 ist meine Mutter dann nach Marienburg gezogen. Die Scheidung meiner Eltern folgte zwar erst 1965, sie bahnte sich aber schon Anfang der 60er an, als unser Vater die Beziehung zu Mary Bauermeister begann. Sie war eine Fluxus-Künstlerin und hatte damals noch keine Kinder. Sie war eine andere Art von Muse für ihn.

Ihr Vater hatte sich in die junge Künstlerin verliebt und ihrer Mutter vorgeschlagen, fortan zu dritt zu leben. Mary Bauermeisters Sicht der Dinge kann man in ihrer Autobiografie nachlesen. Wie hat Ihre Mutter das erlebt?

Für meine Mutter war das sehr schwer. Sie war aber tolerant und liebte meinen Vater über alles, deswegen hat sie zuerst versucht, das irgendwie mitzutragen. Aber es war letztlich nicht möglich für sie. Aus der Sicht von Mary Bauermeister war diese ménage à trois ein ernsthafter Versuch. Aber meine Mutter war davon nicht begeistert und sie wollte auch nicht mit einziehen in das Haus, das sich mein Vater in Kürten baute. Insofern kann man aus der Sicht meiner Mutter nicht sagen: Wir versuchen jetzt was ganz Modernes, eine Ehe zu dritt. Nein, für sie war das ein sehr schmerzvoller Prozess und ein Kampf.

Und die Scheidung kam einer Befreiung gleich?

Nein, es war ein Verlust, aber leider nicht zu vermeiden. Durch den schmerzvollen Trennungsprozess kam eine Periode, in der sie sehr krank wurde. Sie suchte nach Sinn, nach einer neuen Aufgabe, einer neuen innerlichen Ausrichtung. Sie hat dann verschiedene Schritte unternommen, um sich dem Geistigen, Spirituellen zuzuwenden.

Wie haben Sie als als Kinder diese Endphase der Ehe ihrer Eltern erlebt?

Unterschiedlich. Für meine älteste Schwester Suja war es sehr schmerzhaft, sie hat versucht meine Mutter zu beschützen. Sie hatte einen richtigen Zorn auf das, was passierte. Mich hat es weniger berührt, ich habe es akzeptiert. Ich habe es zu wenig verstanden damals. Aber wir Kinder standen sehr zusammen und bildeten eine fröhliche, starke und schöne Einheit. Vielleicht haben wir unbewusst versucht, unserer Mutter diese Zeit leichter zu machen.

Sie war eben nicht nur die Frau von Karlheinz Stockhausen, sondern eigenständig und beschäftigte sich dann vor allem mit philosophischem Gedankengut der hermetischen Tradition
Markus Stockhausen

Zurück zu ihrer Mutter: Sie sprachen von spirituellen Erkundungen?

Sie war eben nicht nur die Frau von Karlheinz Stockhausen, sondern eigenständig und beschäftigte sich dann vor allem mit philosophischem Gedankengut der hermetischen Tradition. Das hat nicht nur sie geprägt, sondern uns alle. Sie hat drei große Strömungen miterlebt: Zuerst einen Ableger der transzendentalen Meditation, da gab es jemand, der ein direkter Schüler von diesem Maharishi Mahesh Jogi war. Danach kam eine lange Phase, in der sie den französischen Philosophen und Weisheitslehrer Frédéric Lionel ins Haus einlud und seine Vorträge in Köln organisierte. Das war eine tiefe spirituelle Beziehung und eine erfüllende Zeit für sie.

Der Kontakt zur Welt Ihres Vaters blieb aber bestehen?

Ja. Bei uns haben auch Hauskonzerte stattgefunden, Feste wurden gefeiert. Die Kollegen meines Vaters kamen auch nach der Trennung noch oft ins Haus, wie der bekannte Pianist Aloys Kontarsky oder der Komponist Mauricio Kagel. Und meine Mutter besuchte immer die Uraufführungen und Konzerte meines Vaters, auch die regelmäßigen Sommerkurse in Kürten. Im Herzen blieb sie meinem Vater die ganze Zeit verbunden. Sie hat ihn immer geliebt, bis zum Schluss. Und er sie auch. Das haben wir auch als Kinder gespürt. Er hatte noch bis 1970 ein Arbeitszimmer hier im Haus. Assistenten meines Vaters, oder junge Musikstudenten, die wenig Geld hatten, wohnten auch oft hier. Meine Mutter war immer offen für Leute, die bedürftig waren, das hatte sie so in ihrem Elternhaus gelernt.

Aber diese Offenheit hörte irgendwann auf?

1991 begegnete sie Jobst Mühling. Ein schwieriger, menschenscheuer Mann, der die Philosophie des indischen Yogis Sri Aurobindo vertrat. Er verwandelte dieses Haus in eine Art Kloster, für 16 Jahre. Meine Mutter unterstützte ihn in allem. Für meine Geschwister war das keine gute Zeit, weil sie unsere Mutter nicht mehr einfach so besuchen konnten. Ich konnte noch ein und aus gehen, weil ich mich mehr im Feld dessen, was hier von Interesse war, bewegte. Jobst Mühling starb im selben Jahr wie mein Vater, 2007. Danach öffnete sich unser Haus wieder, auch für die Kinder und Enkel, die sich freuten, endlich wieder eine Großmutter zu haben.

Wie hat sie Ihre letzten Jahre gelebt?

Die waren gesundheitlich beschwerlicher, ihre Kräfte ließen nach, ein langes Decrescendo. 2020 sind mein Sohn Arjan und seine Frau mit ins Haus gezogen, Enkel und Großmutter hatten ein sehr schönes Verhältnis. Wir Geschwister waren abwechselnd oft im Haus, meine Schwestern, die ja weit entfernt leben, kamen meist für ein- oder mehrere Wochen. Geistig blieb sie bis zum Tod klar. Es waren eigentlich nur die letzten Wochen, wo ihr Körper sagte, so jetzt reicht's. Sie ist hier ganz friedlich eingeschlafen. Wir hatten eine sehr schöne Trauerfeier mit etwa 80 Personen, die sie kannten und liebten. Ihr Körper ist in Oberelvenich bei Zülpich begraben, weil ich dort in der Nähe wohne. Ein Leben lang diente meine Mutter anderen Menschen, half, wo sie konnte, war geistig strebsam, genügsam, humor- und liebevoll, liebte die Blumen und hatte Sinn für das Schöne.


Markus Stockhausen, geboren 1957 in Köln, ist Trompeter und Komponist. Er ist ein Sohn des Komponisten Karlheinz Stockhausen und dessen erster Ehefrau Doris (geb. Andreae). Stockhausen hat für sein musikalisches Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Echo Jazz Preis und den Deutschen Jazzpreis.