Graphic-Novel über Musikpionier StockhausenSuperheld aus fernen Sphären
„Ich habe jetzt hier mal ein bisschen was anderes für euch“, kündigt der Vater seinen Söhnen an und hält eine Schallplatte der Deutschen Grammophon hoch. „Gesang der Jünglinge/ Kontakte“ von Karlheinz Stockhausen. Es ist Juli 1989, gerade haben die großen Ferien begonnen im Städtchen Oberviechtach im Nordosten Bayerns, im letzten Jahr der alten Bundesrepublik. Die beiden Jünglinge lauschen, konzentriert, zunehmend verwundert. Dann brechen sie lauthals in Gelächter aus: „So was Beknacktes!“ Doch im jüngeren Bruder geschieht etwas, eine Verwandlung.
Wieder und wieder lauscht er den seltsamen Klängen. Will immer mehr hören von diesen Platten, die ihm wie „Tickets zu einem fremden Planeten“ erscheinen, auf dem nicht etwa Alf oder Mr. Spock wohnen, sondern ein Mann namens Karlheinz. Ob am Ende Die Ärzte recht hatten, als sie in ihrem Lied „Der lustige Astronaut“ behaupteten, dass Mr. Spock mit Vornamen Karlheinz heißt?
Die Essenz des Meisters
Aus dem verzauberten Jüngling ist der erfolgreiche Autor und Regisseur Thomas von Steinaecker geworden, der jetzt nach siebenjähriger gemeinsamer Arbeit mit dem Zeichner David von Bassewitz einen monumentalen Comic-Band vorlegt, in dem er seine sanft ironisierte Coming-of-Age-Geschichte mit der Biografie seines Lieblingskomponisten verknüpft: „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“.
Ein paar Jahre zuvor hatte Thomas von Steinaecker bereits einen Dokumentarfilm zum Thema gedreht, aber darin, erzählt er im Funkhaus-Café am Kölner Wallrafplatz unter einer riesigen Fotografie des Meisters, hätte er nicht beschreiben können, was das Faszinierende, was die Essenz des Menschen ausmachte.
Graphic Novel erzählt Stockhausens Ursprung wie eine Superheldengeschichte
Bald nachdem er seine Sphärenklänge für sich entdeckt hatte, lernte er den Mann vom Sirius persönlich kennen. Einige seiner nächsten Sommerferien verbrachte von Steinaecker in dessen selbstentworfenem Haus in Kürten. Darum also musste es ein subjektiv erzähltes Comic sein. Und auch, so von Steinaecker, weil ihm Stockhausens Geschichte als klassische Origin-Story eines Superhelden erscheint: „Da hat man wie bei Batman oder Spider-Man einen Menschen, der aus dem Nichts kommt und sich selbst erfindet. Stockhausen hat sich später ja selbst zu einer Art Superheld stilisiert, er ist der „Michael“ in seinem Opernzyklus „Licht“.
„Außerdem“, sagt von Steinaecker, „kann man im Comic Geschichte viel einfacher entstehen lassen, als in einem Film, wo man auf Archivmaterial angewiesen ist. Vom zerstörten Köln sehen sie immer dieselben Luftaufnahmen. David durfte da viel freier agieren, weil er jede Perspektive einnehmen konnte.“ Dieser Freiheit ging freilich ein enormer Rechercheaufwand voraus.
Comic-Zeichner mit Detailrecherche, die Historikern Konkurrenz macht
David von Bassewitz kann die Fragen herunterrattern, die jedem Bilddetail vorausgingen: Wie sah die alte Orgel im Altenberger Dom aus, in dem Stockhausen als Kind für seine psychisch erkrankte Mutter betete, die schließlich vom Nazi-Staat ermordet wurde? Welche Uniform trug der junge Komponist, als er sich nach dem Krieg als Parkplatzwächter verdingte? Welche Marke rauchte er im Studio für Elektronische Musik? Wie genau lief eine Aufführung auf der Weltausstellung 1970 in Osaka ab?
„Da sind Fragen“, sagt von Steinaecker, „die ein Biograf nie stellen würde, die für den Comic aber essenziell sind.“ So gelingen Szenarist und Zeichner Einblicke in das Leben des Jahrhundertkomponisten, die den wenigen biografischen Darstellungen bislang verwehrt blieben.
Auch weil von Steinaecker als neugieriges Kind Stockhausen über dessen Kindheit ausgefragt hatte, „und da hat er mir tatsächlich ziemlich viel erzählt, was sonst nirgendwo steht, zum Beispiel die Geschichte, wo er für einen kriegsgefangenen Amerikaner einen Brief an dessen Mutter schreibt und dann ein deutscher Offizier hereinkommt und den Amerikaner erschießt“.
Frühe Verlusterfahrung wegen des NS-Regimes
Stockhausens frühe Verlusterfahrungen – die Nazis nehmen ihm Mutter, Vater und die eigene Kindheit – zeigt von Bassewitz in Grau- und Brauntönen, aus denen rotes Blut schmerzhaft intensiv herausleuchtet. Ein denkbar großer Kontrast zu den kindlich-bunt aquarellierten Szenen aus von Steinaeckers Provinz-Jugend und auch zur zunehmend hellen und naturalistischen Palette der Nachkriegsjahre, in denen Stockhausen binnen kurzer Zeit vom ausgebuhten Skandalkomponisten zum messianisch verehrten Neutöner aufsteigt.
Die geraubte Kindheit, schätzt von Steinaecker, „ist die Voraussetzung für seinen radikalen Neuanfang in der Musik. Jemand, dem alles genommen wurde, beschließt, alles auf die elektronische Musik, das Neuste vom Neuen zu setzen, und jahrelang im Keller an seiner wahnsinnig positiven, optimistischen Vision zu arbeiten“.
Elektronische Musik der 1950er Jahre
Nach dem Krieg konnte es für Stockhausen nur eine Richtung gegeben: Vorwärts. Die Graphic Novel über den Musik-Avantgardisten schlechthin erlaubt sich selbst nur kleine, wohl dosierte Ausflüge in die Abstraktion. Ungeübte Comic-Leser dürften jedenfalls kein Problem haben, der Geschichte von Bild zu Bild zu folgen. Prozesse multiperspektivisch aufzufächern, je nach Bedarf in ihrer Dynamik oder im Detail zu zeigen, das ist die große Stärke des Mediums. Die Autoren nutzen sie, um die mühsame Arbeit hinter den Sternenklängen zu zeigen, um die äußerst komplizierten Produktionsbedingungen von elektronischer Musik in den 50er Jahren zu visualisieren.
Das könnte Sie auch interessieren:
Trotzdem ist „Der Mann, der vom Sirius kam“ keine reine Heldengeschichte geworden und erst recht keine Hagiographie, Stockhausen wird nicht nur in seinem Genie, sondern auch in seiner grenzenlosen Egozentrik gezeigt – und der Enthusiasmus des jungen Autoren-Ichs als Versuch, die Aufmerksamkeit des Vaters zu gewinnen, der sich lieber hinter einer Zeitung verkriecht. Ein zweiter Teil wird folgen und die Handlungsstränge zusammenführen. Auf einem Konzert in Wien lernt von Steinaecker Stockhausen kennen, es entwickelt sich eine enge Freundschaft zum Übervater. „Und da“ , verrät der Autor, „gerät die Heldengeschichte ein bisschen ins Wanken.“