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„Im Westen nichts Neues“Der deutsche Oscar-Kandidat ist leider relevant

Lesezeit 6 Minuten
Schauspieler Felix Kammerer als Soldat Paul Bäumer

Filmszene aus der Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“.

Die Netflix-Produktion basiert auf Erich Maria Remarques Roman und ist für einen Oscar nominiert.

So einen Satz hört man von einem Regisseur selten: Der Stoff sei „leider relevanter, als wir es erwartet haben“, hat Edward Berger gesagt. Kann einem Filmemacher denn etwas Besseres passieren, als ein aktuelles Thema aufzuspießen? Zudem sich Berger auf einen Roman stützt, der beinahe hundert Jahre alt ist und als Klassiker der Weltliteratur gilt.

Doch handelt dieses Buch vom Schrecken eines Krieges. Berger hat Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ über die Erfahrungen des Autors im Ersten Weltkrieg verfilmt. Heute tobt wieder ein Krieg in Europa, dessen Grauen täglich in Fernsehbildern dokumentiert wird. Schmerz und Leid sind in der Ukraine allgegenwärtig.

Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein Schlachten, wie es die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Erstmals zogen Giftschwaden über Schützengräben. Erstmals brachten Flugzeuge den Tod aus der Luft. Erstmals zermalmten Panzerketten Verteidigungslinien. In einem mörderischen Stellungskrieg gruben sich die Kombattanten ein und starben für ein paar Meter Geländegewinn.

Und noch etwas war damals neu: Mehr Soldaten als je zuvor kamen mit psychischen Schäden nach Hause zurück. Von „Kriegszittern“ oder „Granatenschock“ war damals die Rede. Die Männer litten unter Panikattacken und Schweißausbrüchen, waren gelähmt oder sprachunfähig, ohne dass dafür körperliche Ursachen zu finden waren. Vielfach wurden sie als Schwächlinge verachtet. Die Militärführungen wollten seelische Wunden keinesfalls als ernst zu nehmende Verletzungen anerkennen. Solange alle Gliedmaße dran waren, sollte ein Soldat ordentlich fürs Vaterland in die Schlacht ziehen.

Auch „Im Westen nichts Neues“-Autor litt unter posttraumatischer Belastungsstörung

Das Problem war bloß: Es gab Zigtausende Männer mit diesen Symptomen. Erst viele Jahrzehnte später, in der Folge des Vietnam-Kriegs, kristallisierte sich ein Begriff für dieses Leiden heraus. Psychologen sprechen von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie genauso Opfer von Folterungen oder auch von häuslicher Gewalt betroffene Menschen erleiden.

Auch Erich Maria Remarque gehörte zu jenen, die an Körper und Seele versehrt zurückkehrten. Er litt unter Angstattacken und Depressionen. Dabei war er wohl nur sechs Wochen an der Front. Das reichte aus, um aus ihm einen überzeugten Pazifisten zu machen – während andere wie Ernst Jünger auch den Krieg immer noch ästhetisierten.

Erich Maria Remarques Buch nur bedingt autobiographisch

Bei Beginn des Krieges im August 1914 war Remarque 16 Jahre alt. Er besuchte in Osnabrück ein katholisches Seminar und ließ sich zum Volksschullehrer ausbilden. Im November 1916 wurde er nach dem Notexamen eingezogen und kam im Juni 1917 an die Westfront. Zu seinen Hauptaufgaben in Flandern gehörte das Schanzen, um die deutschen Linien gegen britische Offensiven zu stärken. Im Sommer 1917 wurde Remarque durch Granatsplitter verwundet. Er kam in ein Duisburger Armeehospital.

Heute ist sich die Forschung sicher, dass Remarque viele der in seinem Roman geschilderten Schrecknisse gar nicht selbst erlebt hat. Das Gemetzel im Nahkampf mit Klappspaten und Handgranaten, das Verharren in überfluteten Granattrichtern und das Zischen der Geschosse über den Köpfen: Viele dieser Erlebnisse hatten ihm wohl Leidensgenossen geschildert. Aber nach dem Krieg redeten die meisten von ihnen nicht mehr darüber. Sie ertrugen es nicht, den Horror in Worte zu fassen.

Der Autor sprach selbst von der „Verlorenen Generation“

Dann erschien am 29. Januar 1929 „Im Westen nichts Neues“ im Propyläen-Verlag. Zuvor war der Roman schon in der „Vossischen Zeitung“ abgedruckt worden und hatte deren Auflage in die Höhe schnellen lassen. Angekündigt worden war das Werk als Erlebnisbericht eines Frontsoldaten: „Einer aus der grauen Masse, einer von Hunderttausenden, die als halbe Kinder dem Ruf zu den Fahnen freiwillig folgten, begeistert, ahnungslos.“

Der Erfolg des Romans überstieg alle Erwartungen. Er wurde noch im Erscheinungsjahr in 26 Sprachen übersetzt. Weltweit ist das Buch mehr als 20 Millionen Mal verkauft worden. Remarque hatte den Nerv einer Generation getroffen.

Er selbst verwendete den damals schon bekannten Begriff von der „Verlorenen Generation“. Von der Schulbank weg sei sie in den Krieg geschickt worden. Im Buch sinniert der Held Paul Bäumer, hinter dem sich Remarque verbirgt: „Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Beruf und Interessen. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt.“ Remarque hielt den Roman für unpolitisch: „Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tod gegenüberstellte.“

Roman und Filmadaption wurden früh von den Nazis angefeindet

Die erste US-Kinoadaption erlebte ihre Berliner Premiere bereits im Dezember 1930. Nun zeigte sich, wie verhasst das Buch und in der Nachfolge der Film von Regisseur Lewis Milestone bei all jenen war, die insgeheim schon den nächsten Krieg herbeisehnten.

Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, zettelte bei der Premiere Proteste an. Es kam zu Tumulten. Stinkbomben und weiße Mäuse wurden im Saal losgelassen. Rund 1500 Personen versuchten, das Kino zu stürmen. Gäste, besonders vermeintlich jüdische, wurden angepöbelt.

Die Polizei rückte mit Hundertschaften an. Wenige Tage später verbot die Oberprüfstelle den Film wegen „Herabsetzung deutschen Ansehens im Ausland“. Als 1933 in Deutschland Bücher brannten, waren auch Exemplare von „Im Westen nichts Neues“ dabei. Der Roman galt als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“. Da war Remarque schon in die Schweiz und später in die USA emigriert.

Erste deutsche Verfilmung von „Im Westen nichts Neues“

Nun hat erstmals ein deutscher Regisseur das Buch verfilmt: Die Erinnerung an den Weltkrieg sei hierzulande bis heute von einem Gefühl von Scham geprägt, so Berger. Schauspieler wie Albrecht Schuch, Devid Striesow und Daniel Brühl sind mit von der Partie. Die Rolle des Paul Bäumer spielt der Österreicher Felix Kammerer, Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater.

Berger („Jack“, „Deutschland 83“) bettet seinen Film in eine zusätzliche Parallelhandlung ein: Bei ihm wird zeitgleich im Eisenbahn-Salonwagen in Compiègne über den Waffenstillstand zwischen Deutschen, Franzosen und Briten verhandelt. Das soll die Dramatik des sinnlosen Sterbens so kurz vor Kriegsschluss noch verdeutlichen, nimmt dem Tod aber jene Beiläufigkeit, die den Roman auszeichnet.

Netflix-Produktion vertritt Deutschland als Oscar-Kandidat

Die Netflix-Produktion, die zuerst ins Kino kommt (29. September), hat ihre erste Auszeichnung bereits erhalten: Von deutscher Seite wird sie ins Oscarrennen geschickt. Filme über die jüngere deutsche Geschichte erfreuen sich in Hollywood großer Beliebtheit, siehe den Exilfilm „Nirgendwo in Afrika“ (2001) von Caroline Link oder das Stasidrama „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Beide holten sich die Trophäe.

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Vermutlich dürften auch in den Köpfen der Oscar-Academy-Mitglieder Assoziationen an den Ukraine-Krieg aufsteigen – allen Gewöhnungseffekten zum Trotz, die die täglichen Meldungen über das Sterben nach sich ziehen. Darauf spielt auch der Buchtitel an. Er verweist auf den Tag, an dem Paul Bäumer stirbt. Im Roman heißt es: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“