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Klassikfestival Aix-en-ProvenceEine doppelte Iphigenie und ein verschollener Rameau

Lesezeit 4 Minuten
Menschen tummeln sich auf einer Opernbühne.

Auf der Bühne der „Samson“-Aufführung beim Festival d'Aix-en-Provence

In Aix-en-Provence eröffnet das traditionsreiche Festival den Klassik-Festspielsommer. Die politischen Probleme scheinen weit weg.

In Paris gehen in diesen Tagen Tausende auf die Straßen, um gegen den Erfolg der extremen Rechten bei den französischen Parlamentswahlen zu protestieren und vor dem zweiten Wahlgang das Schlimmste zu verhindern. In Aix-en-Provence ist von dieser erregten Stimmung nichts zu spüren. In der heiteren, ockergelben Stadt in Südfrankreich herrscht Ferien-Atmosphäre. Viele betuchte französische Familien haben ihre Ferienhäuser in der Provence und fahren zum Shoppen und Flanieren in die pittoreske Stadt.

Die politischen Verwerfungen scheinen an dieser Insel der Seligen abzuprallen. Am Mittwoch hat das traditionsreiche Musik– und Opernfestival begonnen, es liefert alljährlich den Auftakt der sommerlichen Festspiel-Saison und hat sich in den letzten Jahren unter der Leitung von Pierre Audi zu einer allerersten Adresse im internationalen Festspielzirkus gemausert. In Sachen Originalität übertrifft Aix das Salzburger Angebot nicht erst in diesem Sommer.

Die Anziehungskraft des Festivals wird auch dadurch sichtbar, dass sich bei den Premieren die Klassik-Prominenz einfindet, Intendantinnen und Intendanten, angesagte Regisseure, Klassik-Impresarios. Am Eröffnungsabend gab es einen Marathon-Abend mit zwei Gluck-Iphigenie-Opern: „Iphigénie en Aulide“ und die darauffolgende „Iphigénie en Tauride“ verklammert Regisseur Dmitri Tcherniakov zu einer aufeinander bezogenen Trauma-Erzählung. Auf der von Tcherniakov selbst gestalteten Bühne befinden sich miteinander verbundene, karg ausgestattete Räume mit durchsichtigen Gaze-Wänden, das Personal trägt zeitlos heutige Kleidung, am Pult ihres Orchesters Le Concert d’Astrée steht Emmanuelle Haïm.

Die erste Iphigenie-Oper kommt nur schwer in die Gänge

Die erste Iphigenie-Oper kommt nur schwer in die Gänge, die Arien ziehen sich ohne nennenswerte Höhepunkte, die Handlung tritt auf der Stelle, und Tcherniakov fällt dazu wenig ein, zumal aus dem Graben kaum Impulse kommen. Nach 90 Minuten Pause schlägt die fünf Jahre später entstandene „Iphigénie en Tauride“ wesentlich dramatischere Töne an und bietet eine konfliktreiche Handlung. Das Bühnenbild hat sich nun ausgedünnt auf leuchtende Streben, die die Räume nur noch abstrakt andeuten - ein Verfremdungseffekt wie seinerzeit die Striche auf dem Bühnenboden in Lars von Triers bizarrem Film „Dogville“.

Corinne Winters entfaltet in der Hauptrolle in beiden Opern trotz ihrer von der Regie verordneten Traumatisierung zwingende Präsenz, ihr manchmal etwas unruhiger Sopran bannt durch Intensität, die weitere Besetzung ist superb. Dennoch wird man nicht ganz glücklich mit diesem langen Abend.

Der zweite Streich dann im Théâtre de l'Archevêché, ein als „Uraufführung“ tituliertes Pasticcio aus vorhandenen Musiken von Jean-Philippe Rameau auf Texte von Voltaire. 1733 nahm dieser mit Rameau eine Reform der Opernpraxis in Angriff, es entstand die biblische Oper „Samson“. Doch das Libretto wurde verurteilt und die Partitur ging verloren. Regisseur Claus Guth und Dirigent Raphaël Pichon haben nun versucht, den Geist jener Oper wiederzubeleben.

Ein erstklassiges, stilistisch versiertes Ensemble begeistert

Das gelingt vor allem musikalisch herausragend: Pichon gilt zu Recht als Überflieger, er sorgt für enorme Spannung und Intensität und lässt den manchmal etwas betulich stelzenden Rameau mitreißend klingen. Ein erstklassiges, stilistisch versiertes Ensemble begeistert. Die gewaltsame Geschichte des Mannes mit den unmenschlichen Kräften, der Zerstörung und Unglück sät, wird allerdings von Guth allzu geschmäcklerisch in allzu schönen Kriegsruinen inszeniert, zumal der Abend nach rasantem Beginn später zu stocken beginnt. Dennoch, großer Jubel und beste Laune im privilegierten Publikum.

Beobachter und Beteiligte der französischen Kulturszene sehen die Lage weitaus weniger heiter. Thomas Hahn ist Journalist und Tanzkritiker, der gebürtige Hamburger lebt seit Jahrzehnten in Paris, seine Frau ist Tänzerin und Choreografin der freien Szene und arbeitet in Aix gerade an einer neuen Choreografie. Hahn empfindet die Stimmung in der Kulturszene gerade als „merkwürdig“. „Man würde erwarten, dass die großen Festivals bestreikt werden, man hört auch von künstlerisch Verantwortlichen, dass die Stimmung sehr bedrückt ist. Aber keiner weiß, was passieren wird und wie man sich positionieren soll.“ Angespannt sei die Lage schon länger, gerade in der freien Szene, die Szenarien drohender Schließungen wären nicht neu, und seien die Frucht der Macron-Zeit: „Der Kultursektor muss 200 Millionen Euro einsparen“, das bedeute gerade für kleinere, auch sozial ambitionierte Projekte, das sichere Aus. Auch ohne Wahlsieg der Rechten.

Intendant Pierre Audi, der seit der Saison 2019 als Intendant das Programm des Festivals verantwortet, ist von den finanziellen Kürzungen ebenfalls betroffen. „Aber der Anteil von Subventionen an unserem Gesamtbudget beträgt nur 30 Prozent, das ist sehr tough. Der Rest finanziert sich über den Privatsektor und durch Kartenverkauf.“

Die Stimmung in der Kulturszene beschreibt er als sehr düster, sehr besorgt. „So oder so wird es nicht mehr, sondern weniger, seit ich in Aix Intendant bin, hatte ich es mit sechs verschiedenen Kulturministern zu tun. Das sagt eigentlich alles. Wir haben konstante politische Diskussionen, es ist nicht einfach.“

Beim Festival selbst sieht auch Audi eine überwiegend heitere Stimmung: „Die Künstler sind happy hier, die Umgebung, die Bedingungen. Aber sie kommen und gehen, es sind ja überwiegend internationale Künstler.“ Eine Insel der Seligen halt.