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Max AnnasDie kleine Rache des Rock’n’Roll am Nationalsozialismus

Lesezeit 8 Minuten
Die Synagoge an der Roonstraße ist Schauplatz des Romans von Max Annas.

Die Synagoge an der Roonstraße ist Schauplatz des Romans von Max Annas.

Köln wird in Max Annas neuem Thriller von einer Mordserie erschüttert. Ein Gespräch über die erschreckend aktuelle Thematik seines Buches.

Herr Annas, Sie mussten zehn Romane schreiben, bis Sie mit dem elften endlich in Ihrer Heimatstadt Köln gelandet sind. Warum hat Köln für Sie als Autor so lange keine Rolle gespielt?

Max Annas: Auf der einen Seite, weil ich Köln sehr bewusst verlassen hatte. Ich wollte weg aus der Stadt und wollte weg vom Beruf des Journalisten. Ich war in Südafrika, ohne einen Plan zu haben, bin dann Hilfsakademiker und schließlich Schriftsteller geworden. Dort lag es überhaupt nicht nahe, wie später auch in meinem aktuellen Wohnort Berlin, mich mit Köln zu beschäftigen.

Warum dann jetzt?

Da ist eine alte Geschichte, die ich seit langem, langem, langem einmal scharfstellen wollte, und das ist die vom 24. Dezember 1959. Das Hakenkreuz an der Kölner Synagoge in der Roonstraße. Die Entscheidung für Köln war also keine Entscheidung für die Stadt Köln, sondern eine für das Hakenkreuz und dessen Geschichte.

Hakenkreuzschmiererei an Kölner Synagoge als Ausgangspunkt der Geschichte

Hat sie in Ihrem Leben eine Rolle gespielt?

Ja, meine Mutter hat mir das so erzählt: „Das Hakenkreuz vom 24. Dezember 1959 war das erste Hakenkreuz, das nach dem Zweiten Weltkrieg je wieder auf einer deutschen Wand aufgetaucht ist.“ Meine Mutter hatte sich diese Geschichte nicht ausgedacht, sondern sie selbst so gehört. Irgendwann war ich politisch so erfahren, dass ich wusste, dass das nicht stimmen konnte und habe recherchiert. Und es gab allein in Nordrhein-Westfalen hunderte Anschläge, Übergriffe und Hakenkreuzschmierereien zwischen Kriegsende und dem 24. Dezember 1959.

Wie wurde diese Geschichte dann zu Ihrem Romanstoff?

Ich wollte diese „Urban Legend“ unbedingt bearbeiten. Die Gelegenheit bot sich, als ich den Verlag gewechselt habe, von Rowohlt zu Suhrkamp, und mit meinem neuen Herausgeber Thomas Wörtche Optionen diskutiert habe für die nächsten Jahre. Und Thomas hat mit dem Finger auf das Hakenkreuz gezeigt und gesagt: „Das machst du.“

Wir würden Sie Ihre persönliche Beziehung zu ihrer Heimatstadt Köln beschreiben und hat sie sich durch die Arbeit an diesem Buch verändert?

Meine Beziehung zu Köln ist immer noch eine sehr gute. Das hat mit Leuten zu tun, die hier leben. Aber auch damit, dass ich die Stadt, obwohl ich sie verlassen musste, weil ich wollte, immer noch in guter Erinnerung habe. Es ist ein relativ offener Platz für Menschen, eine der wärmsten Städte in Deutschland, sie liegt nah am Ausland. Ich fahre gern mit dem Fahrrad durch Köln, bin aber auch froh, nicht mehr hier zu wohnen.

Auch in Köln gibt es Nazi-Übergriffe

Also ist der Roman keine Abrechnung mit Ihrer Heimatstadt.

Nein, es ist keine Abrechnung, ich hatte nur das Gefühl: Ich muss ein paar Dinge zurückgeben, die nichts mit Höflichkeit und Freundlichkeit zu tun haben. Einige der Legenden, die über Köln erzählt werden, sind halb wahr, aber eben auch nur halb. Auch in Köln gibt es Nazi-Übergriffe. Man denke nur an die Vorgänge in der Keupstraße. Es ist immer wichtig, die Wand einzureißen, auf der diese Halbwahrheiten akkurat aufgemalt sind und zu gucken, wie es dahinter aussieht.

Zentrales Thema des Buches sind drei Bereiche: Antisemitismus, Gewalt und Rock'n'Roll. Wie waren Ihre persönlichen Erfahrungen zum Antisemitismus in Köln?

Ich bin aufgewachsen in einer normal antisemitischen Umgebung in den 60er- und 70er-Jahren, mit einer Sprache voller Antisemitismen. Es gab immer mal jemanden, auf den mit dem Finger gezeigt und gesagt wurde: „Dat is ne Jidd“. Das ist mir als Kind nicht wirklich aufgefallen, erst später merkte ich, was die Leute da in Wahrheit erzählt haben. Und zur Gewalt: Das Buch ist vor dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Hamas auf Israel konzipiert und in Teilen auch geschrieben worden. Aber im Buch sollte es um jüdische Rache gehen. Ich habe mir einen Plot ausgedacht, um zu schauen, was es mit meiner Stadt macht, wenn da einer wie im Western sozusagen aufräumt.

Das Thema Antisemitismus und seine aktuellen Erscheinungen auch in Deutschland ist Ihnen offenbar ein großes persönliches Anliegen.

Sie reden hier mit jemandem, dessen wichtigste politische Erfahrung Auschwitz ist. Ich bin als politischer Mensch ohne die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und Auschwitz nicht denkbar. Das ist das, was mich geschult hat. Das ist wichtigster Teil meines Denkens. Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dazu etwas zu schreiben, denn Antisemitismus in Deutschland ist leider sehr lebendig.

Dass das, was ich in meinem Buch jüdische Rache nenne, auf die heutige Realität trifft, habe ich nicht erwartet.
Max Annas

Während Sie an dem Roman gearbeitet haben, ist der Konflikt im Nahen Osten mit brutaler Härte eskaliert. Wie ist Geschichte und Aktualität für sie miteinander verknüpft?

Ich verbringe einen Teil meines Lebens in Kairo, bin also oft in der Region, das kommt noch dazu. Dass das, was ich in meinem Buch jüdische Rache nenne, auf die heutige Realität trifft, habe ich nicht erwartet. Aber es ist eben auch kein unvorstellbarer Zufall. Ich denke politisch und versuche, wenn ich einen historischen Stoff bearbeite, ihn an die Gegenwart anzuschließen.

Wer mehrere Bücher von Ihnen gelesen hat, weiß, dass Gewalt in ihnen eine große Rolle spielt. Viele Menschen sterben. Wie ist Ihr Verhältnis zur Gewalt?

Persönlich habe ich, seit ich zwölf Jahre alt war, keinen anderen Menschen mehr geschlagen. Die Gewalt, die ich anwende, ist eine literarische. Sie ist im literarischen Rahmen nie Selbstzweck, sie hat immer mit den Umständen zu tun und der Gewalttätigkeit, die ihnen innewohnt. Ich habe viele Bücher gelesen, in denen Gewalt gefeiert wird. Das, so hoffe ich, tu ich nicht, auch wenn manche Leute, wenn sie meine Bücher lesen, einen anderen Eindruck haben mögen. Meine ersten Romane entstanden in Südafrika, und das ist eben ein enorm gewalttätiges Land. In meinem neuen Buch, das 14 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs spielt, legt eine Figur Leute in Serie um, von denen sie glaubt, dass sie schwere Schuld tragen. Die Gewalt im Buch stellt eine Rückkehr der Erfahrungen von 1933 bis 1945 dar. Viele meiner Figuren tragen diese Erfahrungen im Gepäck, und sie handeln danach. Und ich fand es legitim, erzählerisch ein größeres Blutbad anzurichten.

Die Gewalt, die ich anwende, ist eine literarische.
Max Annas

Eine zentrale Stelle der Erzählung führt einen jungen Helden ihres Buches in eine Kölner Nazi-Veranstaltung, in der er um sein Leben bangen musste. Sie haben bei einer Lesung neulich erzählt, dass Ihnen das viel später auf eine weniger gefährliche Weise in Köln selbst widerfahren ist.

Es war ähnlich, ich habe mich körperlich bedroht gefühlt, bin aber nicht angefasst oder verprügelt worden. Es war im Jahr 1992, eine überregionale Veranstaltung der sogenannten „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ im Senatshotel. Der Manager des Hotels hat mir glaubhaft versichert, dass er nicht wusste, dass sich Nazis am rechtesten Rand des politischen Spektrums bei ihm angemeldet hatten. Ich war mit einem Kollegen als Pressevertreter für die StadtRevue da. Es waren auch alle anderen Kölner Medien da, Leute vom Kölner Stadt-Anzeiger, von der Kölnischen Rundschau, vom Express, vom WDR, Radio Köln. Es wurden die üblichen rechten Reden gehalten. Damals waren die Modebegriffe „Asylmissbrauch“ und „Asylbetrüger“.

Klingt ziemlich aktuell.

Ja, und doch waren das damals ziemlich exklusiv von der Naziseite benutzte Begriffe. Wir saßen hinten in einem abgetrennten Bereich. Nach der Pause hat sich der Versammlungsleiter Markus Beisicht, ein Rechtsanwalt, der heute im Rat der Stadt Leverkusen sitzt, erhoben und mit dem Finger auf uns zeigend gesagt: „Da hinten sitzen zwei Vertreter der ganz linken Presse, von der StadtRevue.“ Worauf sich die Menge uns zuwandte. Und es hat sich rasch ein gemeinsamer Spruch ergeben: „Rotfront verrecke!“ In meiner Erinnerung ist das etwa eineinhalb Minuten lang zum Stampfen von Füßen gebrüllt worden. So etwas gehört für einen Schriftsteller zum Schatz der eigenen Geschichten, die irgendwann erzählt werden müssen. Die Kollegen der anderen Kölner Medien haben uns beide dann beim Verlassen des Saales, nach der Veranstaltung, durch einen Kordon geschützt, wofür ich heute noch dankbar bin.

Rock’n’Roll ist das Herz des Buches

Welche Funktion nimmt der Rock’n’Roll in Ihrem Roman ein?

Für mich ist es das Herz des Buches. Die meisten meiner Bücher haben mit dem Verhältnis der Kontinente Europa und Afrika zu tun. Der wesentliche Grund für den relativen Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ist, dass Leute auf der einen Seite der Grenze nicht auf die jenseits der Grenze schießen wollten, weil die dieselbe Musik gehört haben. Die Stimme der Macht, der Politik sagt: „Der Friede blieb, weil sie miteinander Handel trieben.“ Doch die auf der anderen Seite der Grenze haben auch Elvis gehört. Ich denke, dass es die über die USA mehrfach transformierte afrikanische Musik war, die Europa gerettet hat, den kaputtesten, zerrissensten Kontinent der ganzen Welt, wo immer Kriege geherrscht haben, blutigste Vernichtungskriege. Europa ist durch afrikanische Musik befriedet worden. Das ist mir ein sehr wertvoller Gedanke. Und dann fasziniert mich noch die Spiegelung eines historischen Vorgangs durch Rock'n'Roll, die sich im vorletzten Kapitel des Buches wiederfindet.

Spiegelung?

Joseph Goebbels hat im Berliner Sportpalast 1943 an das deutsche Volk die Frage gestellt: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das war derselbe Sportpalast, den junge Deutsche nur 15 Jahre später auseinander genommen haben, weil sie Bill Haley sehen wollten und nicht die Bigband von Kurt Edelhagen, die im Vorprogramm zu sehen war. Die Leute haben den Sportpalast zerlegt, der danach nicht mehr lange existiert hat. Für mich ist das die kleine Rache des Rock’n’Roll am Nationalsozialismus.


„Tanz im Dunkel“ von Max Annas, Suhrkamp Verlag, 237 Seiten, 17 Euro, erscheint am 13. Januar.