Kölner Jazzszene„Zuerst denen helfen, die nicht mehr schreien können"
- Reiner Michalke ist Kulturmanager und Kölner Jazzautorität. Im Interview spricht er über die Lage der Szene angesichts Corona.
- Michalke lobt die öffentlichen Hilfen, befürchtet aber, dass diese nicht mehr lange wirken werden.
- In den Niederlanden, so Michalke, wird Jazzmusikern und anderen freien Künstlern besser geholfen als in Deutschland.
Köln – Herr Michalke, die Stadt als kreativer Austragungsort für Kultur ist zum Erliegen gekommen. Wie geht es Ihnen persönlich damit?Wenn man sein ganzes Leben dafür arbeitet, dass Menschen zu einem gemeinsamen Ereignis, einem Konzert oder einem Festival zusammenkommen und sich dabei dicht gedrängt im selben Raum befinden und die gleiche Luft atmen wie die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, dann erfordert die jetzige Situation schon eine große Umstellung. Aber Jammern gilt nicht. Es geht jetzt darum, die Zeit sinnvoll zu nutzen und für die Zeit danach zu planen.
Wie ist derzeit die allgemeine Stimmung in der Kölner Jazz-Szene?
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betreffen alle Kulturschaffenden und die mit ihnen partnerschaftlich verbundenen Akteure, Ton-, Licht- und Bühnentechniker, um nur einige zu nennen. Alle sind Kummer gewohnt. Vielleicht können sie sich deshalb auch am schnellsten auf die neue Situation einstellen. Meine Sorge ist, dass die Menschen und Institutionen, die schon vor der Krise am Rand des Möglichen gearbeitet haben, jetzt keine Reserven haben, um lange durchzuhalten. An dieser Stelle möchte ich den Verantwortlichen im Bund, Land und Stadt ein Kompliment machen, ohne Wenn und Aber. Hier wurde sehr schnell gehandelt und deutlich gemacht, dass die freie Kulturszene ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens ist. Soviel Respekt für die so genannte Freie Kultur wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Das macht uns Mut für die Zukunft.
Zur Person
Reiner Michalke (geb. 1956) ist künstlerischer Leiter des Europäischen Zentrums für Jazz und Aktuelle Musik im Stadtgarten Köln. Von 2006 bis 2016 war er künstlerischer Leiter des moers festival, aktuell ist er ebenfalls geschäftsführender Intendant der Monheim Triennale.
Kann eine Institution wie das Europäische Zentrum für Jazz und Aktuelle Musik mit seinen Subventionen unterstützend eingreifen? Und wie lange kann das gehen?
Die angebotenen Hilfen werden bald aufgebraucht sein. Wir als teilsubventioniertes Haus können vielleicht etwas länger durchhalten als die, die keine Zuschüsse erhalten, aber auch bei uns werden irgendwann die Batterien leer sein. Bis dahin tragen wir eine Mitverantwortung für alle, denen es schlechter geht als uns. Und dieser Verantwortung versuchen wir, so lange wie möglich nachzukommen, indem wir da auszugleichen, wo die öffentlichen Hände nicht hinkommen.
Kommen die öffentlichen Hilfen denn an?
Wir sind in einer Situation, in der es sehr genau darauf ankommt, öffentliche Hilfen fair und sachgerecht zu verteilen. Die Gefahr besteht tatsächlich, dass diejenigen, die am lautesten schreien, am ehesten berücksichtigt werden. Ich habe gelernt, dass sich Notfallsanitäter am Unfallort zuerst um die kümmern, die nicht mehr schreien können. Und erst dann um die anderen. So sollte es eigentlich sein.
Vielerorts stellt sich der Konzertbetrieb auf digitale Formate um. Kann man damit den Zweck der vereinbarten Leistungen abändern und weiterhin Honorare auszahlen?
Wir wissen, dass diese Krise irgendwann zu Ende geht. Aber darauf wollen wir nicht warten. Mit anderen zusammen haben wir begonnen, Veranstaltungen ins Netz zu streamen. Die Kölner Club-Szene hat dafür den „Cologne Culture Stream“ eingerichtet. Vor der Krise war ich eher zurückhaltend damit, es ist so ein bisschen wie alkoholfreies Bier: Es fehlt etwas Wichtiges. Aber jetzt bietet Streaming eine gute Chance, um mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben. Wir lernen jeden Tag dazu, und ganz nebenbei hat das Publikum Gelegenheit, sich aktiv zu beteiligen. Und sei es nur, dass es einen Beitrag als Spende für die Künstlerinnen, Künstler und Clubs entrichtet.
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Wie versucht man in anderen Ländern, den Kulturbereich am Leben zu halten? Gibt es da konstruktive Maßnahmen, von denen man lernen kann?
Als europäisches Zentrum stehen wir in engem Austausch mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen. Dabei ist es interessant zu erfahren, welche Maßnahmen andere Spielstätten und Festivals ergreifen. Hier reicht die Palette von Hinterhofkonzerten bis zum ersten Online-Festival im April/Mai in Ankara. Viele nutzen die Möglichkeit, live zu streamen. Einige haben schon vor der Krise regelmäßig Konzerte mitgeschnitten, etwa das Moods in Zürich oder das Bimhuis in Amsterdam, jetzt können sie auf ihr großes Archiv zugreifen.
Im Moment sind die Hilfen ein riesiger Flickenteppich
Wie werden die Künstlerinnen und Künstler in den Nachbarländern behandelt?
Alle sind bemüht, ihnen im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten einen Ausgleich für ihre Leistungen anzubieten. Die öffentlichen Hilfen sind in den Ländern sehr unterschiedlich, das stellt sich im Moment wie ein riesiger Flickenteppich dar. Vorbildlich agieren die Niederlande mit einem Grundeinkommen für Freischaffende von bis zu 1500 Euro netto monatlich. Selbstverständlich haben wir uns mit unserem europäischen Verbund an die Kommission in Brüssel mit der Bitte um Hilfe gewandt.
Kann es eine Rückkehr zur Normalität vor Corona geben? Oder läge in der Veränderung von Normalität sogar eine Chance?
Ich bin sicher, dass nach dieser Krise vieles anders sein wird als zuvor, und ich glaube fest daran, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt, die wir nur erkennen müssen. So hilft Corona unserem Planeten, einmal durchzuatmen. Daran sieht man, was möglich ist, wenn wir nur wollen. Auch im Kleinen wird es Veränderungen geben, und wenn es nur eine größere Wertschätzung für das ist, was wir immer für selbstverständlich gehalten haben und was uns im Moment aus gutem Grund genommen ist: „physical closeness“ statt „physical distancy“.