Frau Professor Rostalski, nach spektakulären Prozessen ist bisweilen zu hören, in Deutschland würden Vermögensdelikte härter bestraft als Angriffe auf Leib und Leben. Stimmt das?
Wir hatten in der Vergangenheit tatsächlich ein großes Ungleichgewicht. Historisch gewachsen und letztlich im System des Kapitalismus begründet, wurden Delikte gegen Vermögenswerte härter bestraft als Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit. Genau dieser Missstand war leitend für eine Strafrechtsreform, die 1998 in Kraft getreten ist. Damals wurden die Strafrahmen so harmonisiert, dass eben nicht mehr der Diebstahl schwerer wiegt als die Körperverletzung.
Die Armbanduhr war wertvoller als der Arm?
Plakativ gesprochen war das so, ja. Aber das ist inzwischen im Lot. Problematischer sind heute Fragen der Vergleichbarkeit und der Gerechtigkeit im Einzelfall. Zum Beispiel gibt es in der Strafzumessung ein eklatantes Nord-Süd-Gefälle und erhebliche Abweichungen bei den Strafen für die gleiche Tat.
Woran liegt das?
Das ist zum einen kulturell bedingt: Im Norden wird milder bestraft als im Süden. Zum anderen liegt es an der Einzelpersönlichkeit des Richters und an einem in Deutschland sehr weit bemessenen Strafrahmen. Innerhalb dessen hat der Richter große Spielräume, um so dem Einzelfall gerecht werden zu können.
Zur Person
Frauke Rostalski, geboren 1985, ist seit August Inhaberin des Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln. Sie ist auch promovierte Philosophin. Für Ihre Habilitation hatte sie mehrere Stipendien unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die ihr auch einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der State University of New York ermöglichten. (jf)
Stellen Sie sich das wie einen Regler vor, den der Richter nach Ermessen von „milder“ auf „härter“ schiebt. Die Kehrseite begründeten Ermessens ist die Gefahr, dass gleiche Fälle am Ende ungleich behandelt werden – was nicht zuletzt verfassungsrechtlich mehr als problematisch, derzeit aber kaum kontrollierbar und korrigierbar ist.
Wegen der richterlichen Freiheit?
Genau. Kritiker in der Rechtswissenschaft nennen das gegenwärtige Konzept der Strafzumessung eine „Theorie der eingeschränkten Richtigkeitskontrolle“. Und hier müsste dringend nachgebessert werden. Es ist das legitime und hauptsächliche Interesse jedes Angeklagten, zu wissen: Was kriege ich für meine Tat? Ist das nachvollziehbar und transparent?
Für die Nebenkläger – also etwa ein Opfer – im Strafprozess ist das auch wichtig, oder?
Absolut. Ich finde, es gibt ein in der Verfassung begründetes Recht jedes Bürgers, dass er nicht fürchten muss, in München erheblich anders behandelt zu werden als in Münster, von Richter A anders als von Richter B, und in einem Fall mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit anders als in einem Verfahren, das völlig unbeachtet bleibt. Ein weit gezogener Strafrahmen samt großer Freiheit, das eine so günstig für die Richter wie das andere, führt zu einer aufs Ganze fragwürdigen Situation.
Warum wird das nicht verändert?
Das Problem ist seit Jahrzehnten erkannt, aber die Abhilfe ist schwierig. Diskutiert wird ein Punktesystem wie in den USA, die sogenannten „Sentencing Guidelines“, an denen die Richter sich zu orientieren hätten. Problem: Das wird sehr schnell schematisch – und damit auch wieder ungerecht, weil die speziellen Umstände aus dem Blick zu geraten drohen.
Was dann also?
Ich fände ein erhöhtes Maß an Transparenz sehr wichtig. Sentencing Guidelines wären hier ein möglicher Weg – wenn sie besser gefasst wären als in den USA und der Richter die Option hätte, mit einer ausdrücklichen Begründung auch davon abweichen zu dürfen.
Um im Bild des Reglers zu bleiben: Gibt es Entwicklungen, dass für bestimmte Straftaten, etwa Sexualdelikte, der Regler im Lauf der Jahre weiter nach rechts – auf härter – geschoben wird, weil die Gesellschaft solche Delikte anders bewertet und anders bestraft wissen will als früher?
Eindeutig, und ich halte das für richtig. Auch hier hat die erwähnte Strafrechtsreform übrigens nachgebessert und ein erhebliches Ungleichgewicht bei der Ahndung von Sexualstraftaten ins Lot gebracht. Wir machen mit der Art, wie wir etwas bestrafen, klar, wie wir dazu stehen. Wenn wir etwa unsittliche Berührungen in der Öffentlichkeit bestrafen, verdeutlichen wir den Wert der sexuellen Selbstbestimmung von Anfang an.
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Und wenn so etwas in der Gesellschaft auch so angekommen ist, muss das Strafrecht auch mitziehen. Ich halte es für völlig daneben, wenn dann von der „Moralkeule“ oder ähnlich schlimmen Dingen gesprochen wird. Nicht zuletzt hat auch der Gesetzgeber immer wieder nachgebessert. Denken Sie daran, dass nach der Kölner Silvesternacht ein neues Delikt „Straftaten aus Gruppen“ geschaffen wurde.
Würden Sie sagen, dass Sie diese Themen als Frau durch die Genderbrille – und dann eher streng – betrachten?
Es ist ein Genderthema, aber die Diskussion verläuft nicht entlang der Grenze zwischen den Geschlechtern. Ich kenne viele Kollegen, die das genau so sehen wie ich – und Kolleginnen, die zum Beispiel sagen, von einer Sexualstraftat sei begründet erst dann auszugehen, wenn das Opfer sich zur Wehr gesetzt hat.
Ist das Strafrecht ein Mittel zur Verdeutlichung unserer Werteordnung, etwa der Gleichberechtigung von Mann und Frau, oder bestimmter Rollenbilder, Stichwort Ablehnung einer Macho-Kultur?
Da bin ich skeptisch. Mit – wenn Sie so wollen – pädagogischen Maßnahmen oder einer Werte-Erziehung müssen Staat und Gesellschaft viel früher ansetzen. Das Strafrecht ist das falsche Instrument, denn wenn das sprichwörtliche Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, ist es zu spät. Konkret: Einen Täter zu bestrafen, bedeutet nicht, dass er damit auch den Wert anerkennt, den er verletzt hat. Wir müssen zudem immer aufpassen, dass wir an einem Angeklagten im Prozess kein Exempel statuieren oder am Einzelfall die abschreckendere Wirkung des Strafrechts exerzieren. Das verstößt gegen die Menschenwürde und lässt außer Acht, dass für die Strafzumessung allein eines maßgeblich ist: die Schuld des Täters. Dies ist unabhängig von Stimmungen oder öffentlichen Diskussionen.
Aber denken Sie an die Raserprozesse – besteht da nicht ein berechtigtes Schutz-Interesse der Öffentlichkeit, den Tätern und damit auch möglichen Nachahmern mit aller Härte zu begegnen?
Das Problem bei den illegalen Autorennen liegt im Gesetz. Um eine womöglich tödliche Raserei angemessen hart bestrafen zu können, braucht es den Vorsatz des Täters. Man kann aber nicht zwingend davon ausgehen, dass der Raser mit der Absicht losfährt, jemanden zu verletzen oder umzubringen. Im Gegenteil: Plausibel ist die Annahme, dass der Täter am Steuer sich für einen kleinen Sebastian Vettel hält und jedenfalls denkt: „Ich hab’s im Griff, das wird schon gutgehen.“ Dann lässt sich sein Verhalten aber nach geltendem Recht nur als Fahrlässigkeit und als Straßenverkehrsdelikt bestrafen. Da aber sind die Sprünge im Strafrecht so enorm, dass sie überhaupt nicht der Schwere der begangenen Tat und ihrer Folgen entsprechen. Das passt einfach nicht.
Wie ließe sich das beheben?
Der Gesetzgeber hat eine neue Vorschrift (Paragraf 315d StGB) eingeführt, die Autorennen als eigenes Delikt bestraft. Ich halte das für Flickschusterei an einem Einzelphänomen. Wer weiß schon, was als nächstes kommt? Stattdessen bräuchten wir eine allgemeine Vorschrift mit einem neuen Grad für die Bestimmung des Täterhandelns: ein Delikt, das „leichtfertige“ Tötungen erfasst. Das würde die große Lücke zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz insbesondere im Bereich der Tötungsstraftatbestände schließen.
Was ist das Merkmal leichtfertigen Handelns?
Wer mit Vollkaracho durch die Innenstadt fährt, dem muss zur Last gelegt werden können, dass er die Wahrscheinlichkeit der Gefahr ignoriert oder verdrängt, andere zu verletzen oder zu töten. Das ist leichtfertiges Handeln. Es eigens zu bestrafen, ist aber bislang nicht möglich. Hier verstehe ich die öffentliche Empörung und rate dem Gesetzgeber deshalb sehr zu einer Reform – zugunsten der Opfer wie des Rechtsfriedens.