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Kölner Kriminalpsychologin Lydia Benecke„Man geht davon aus, dass das Gruseln eine Art Übungseffekt hat“

Lesezeit 7 Minuten
Lydia Benecke in Köln, Oktober 2023

Die Kölner Kriminalpsychologin Lydia Benecke im Oktober 2023

Die Kölner Kriminalpsychologin Lydia Benecke über ihren Podcast „Melody of Crime“, unseren Umgang mit Straftätern und den Boom von True-Crime-Formaten.

Frau Benecke, Sie machen mit Mousse T. den Podcast „Melody of Crime“ über Kriminalfälle im Kulturbereich. Künstlern wird ja oft unterstellt, ein besonderes Persönlichkeitsprofil zu haben, eher labil zu sein. Stimmen Sie zu?

Lydia Benecke: Als Psychologin ist es mir wichtig, etwas nicht nach Bauchgefühl zu beurteilen. Es gibt sicherlich gemeinsame Eigenschaften wie Kreativität oder vielleicht auch Offenheit für Erfahrungen, aber insgesamt glaube ich nicht, dass man per se sagen kann, Menschen, die künstlerisch in verschiedenen Branchen aktiv sind, sind labile Personen.

Ihr Podcast ist einer unter sehr vielen. Warum boomt das True-Crime-Genre so?

Als ich anfing, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, war ich elf Jahre alt. Damals gab es fünf Fernsehkanäle, es gab kein allgemein verfügbares Internet. Aber im Fernsehen, gerade im Abendprogramm, liefen viele Filme und Reportagen, die erzählten, wie es dazu kam, dass jemand eine Straftat beging. Diese Art der Berichterstattung hat auch damals schon die Leute interessiert. Die Medienvielfalt war einfach kleiner. Aber das Grundinteresse lässt sich historisch weit zurückzuverfolgen. Früher haben sich Leute Geschichten von Verbrechen erzählt. Später gab es Groschenromane. Das ist nicht wirklich neu.

Alle Straftäter, mit denen ich arbeite, haben es zu einem gewissen Grad geschafft, in sozialen Interaktionen nicht aufzufallen.
Lydia Benecke

Aber was macht die Faszination aus?

Das Interesse ergibt sich aus mehreren Facetten. Ein Aspekt ist, dass Menschen sich unwillkürlich Gefahrenquellen zuwenden. Das kennen wir vom Autounfall auf der Autobahn. Warum fahren die Leute langsam und gucken dahin? Es ist völlig sinnlos. Bei Geschichten von wahren Verbrechen geht es auch um einen gewissen Gruseleffekt. Was unterscheidet Grusel von Angst? Die Tatsache, dass bei Grusel klar ist, es besteht keine echte Gefahr für mich, wenn ich diesen Groschenroman lese oder einen Podcast höre. Dieses Gruseln fühlt sich im Unterschied zu echter Angst angenehm an. Man geht auch davon aus, dass das Gruseln eine Art Übungseffekt für gefährliche Situationen hat.

Ein weiterer Grund ist doch sicher, dass die Leute verstehen wollen, wer so etwas macht und warum?

Ja, diese Frage wird mir als Kriminalpsychologin immer gestellt. Menschen können oft nicht verstehen, wie eine Person, die vermeintlich unauffällig in ihrer sozialen Umgebung integriert war, ein emotional aufwühlendes Verbrechen begeht. Sie denken, dieser Mensch wirkt so normal. Aber alle Straftäter, mit denen ich arbeite, haben es zu einem gewissen Grad geschafft, in sozialen Interaktionen nicht aufzufallen. Die allermeisten waren integriert. Man kann das nicht merken. Statistisch betrachtet ist es äußerst wahrscheinlich, dass jeder Mensch schon mal einer Person im näheren Umfeld begegnet ist, die eine Sexualstraftat begangen hat. Man merkt es nicht, und das ist etwas, was die meisten Menschen nicht aushalten können, weil es so unangenehm ist. Aber es sind Menschen, die schwere Straftaten begehen, keine Monster.

Menschen können oft nicht verstehen, wie eine Person, die vermeintlich unauffällig in ihrer sozialen Umgebung integriert war, ein emotional aufwühlendes Verbrechen begeht
Lydia Benecke

Es fällt uns schwer, die Ambivalenz auszuhalten?

Bestimmte Straftaten erzeugen natürlich verständlicherweise starke negative Emotionen. Wir möchten uns nicht vorstellen, dass ein Mensch so etwas tun könnte, mit dem man privat zu tun hat. Es gibt ja aus gutem Grund Mechanismen in uns Menschen, die uns eigentlich dazu befähigen, als soziale Wesen zu leben. Mitgefühl, Schuldgefühl, Angst vor negativen Konsequenzen - diese Emotionen sind sehr wichtig. Aber viele Straftaten sind so weit weg von dem subjektiven Gefühl eines durchschnittlichen Menschen, dass wir das nur schwer aushalten.

Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass True-Crime-Formate vor allem voyeuristisch sind und das Leid von Menschen dazu missbraucht wird, andere zu unterhalten?

Zu glauben, dass man Menschen das Interesse abgewöhnen könnte, ist naiv. Wenn es dieses Interesse bei Menschen gibt und es schon immer da war, warum nutzen wir es nicht sinnvoll? Mein Ansatz ist, Menschen Wissen zu vermitteln, das wichtig für die Gesellschaft ist. In meinen Büchern erkläre ich immer, was die wissenschaftliche Forschung zu bestimmten Themen bisher ergeben hat. Dann wende ich diese Theorie auf echte Fallbeispiele an und versuche so zu helfen, dass die Menschen die Entwicklungsgeschichte bis zu der Tat nachvollziehen können. Wobei ich immer sage, eine Erklärung ist nie eine Entschuldigung.

Das ist, was True Crime erreichen kann. Man bringt Menschen zum Nachdenken und verbessert gesellschaftlich im besten Fall etwas.
Lydia Benecke

Sie glauben, True Crime kann der Prävention dienen?

Es ist ja nicht so, dass bei einem normalen Menschen plötzlich ein Schalter umschlägt und er tötet. Wir sehen eine gewisse Entwicklungsgeschichte, da kommen bestimmte Faktoren zusammen. Ich vermittle den Menschen, dass es viele Möglichkeiten gibt, diese Entwicklung vorher abzubrechen. Was können wir als Gesellschaft dafür tun, dass Prävention funktioniert, angefangen bei Kindern und bei Jugendlichen? Es hilft nichts, sich das anzuschauen und zu sagen, das ist ja tragisch. Die Frage ist, können wir in Zukunft etwas besser machen, damit es weniger dieser Taten gibt? Das ist, was True Crime erreichen kann. Man bringt Menschen zum Nachdenken und verbessert gesellschaftlich im besten Fall etwas.

Sie arbeiten mit Straftätern. Wie begegnet man solchen Menschen?

Das ist nicht zu vergleichen mit irgendeiner Form von privater Interaktion. Ich weiß, diese Person hat etwas getan, das falsch ist. Sie hat andere geschädigt. Aber man muss natürlich eine Arbeitsbeziehung aufbauen, die Person soll sich öffnen können. Sie soll Vertrauen fassen und merken, dass sie ehrlich sein kann. Es ist für viele von diesen Menschen ab einem gewissen Punkt erleichternd, dass sie mit einem Menschen drüber reden können. Aber ich kann das auf keiner Ebene mit einer privaten Interaktion vergleichen.

Wir haben bestimmte Vorstellungen von Tätern, aber auch von Opfern, oder? Ich denke da an Natascha Kampusch, der anfangs viel Mitgefühl begegnete, das dann bei manchen in Ablehnung umschlug.

An dem Fall kann man sehen, dass es für Menschen generell sehr wichtig ist, bestimmte Vorannahmen zu behalten, die für sie relevant sind. Und es gibt ein bestimmtes Bild, das Menschen davon haben, wie sich eine Person verhalten müsste, die das Opfer schwerer Gewalt ist. Diese stereotypen Vorstellungen, die die meisten Menschen gar nicht reflektieren, sind geprägt durch unterschiedliche Darstellungen aus der Gesellschaft und Kultur. Natascha Kampusch ist anders aufgetreten als das Stereotyp eines Gewaltopfers in den Köpfen vieler Menschen.

Was hat sie in deren Augen „falsch“ gemacht?

Sie war selbstbewusst und selbstbestimmt und von der Gesamtwirkung deutlich anders als das, was die Menschen erwartet hätten. Das hat dazu geführt, dass bei ihnen eine Dissonanz entstanden ist. Ihre Erwartung, wie sie sich verhalten müsste, wird in Frage gestellt durch die Realität. Das fühlt sich unangenehm an. Man kann auf zwei Arten reagieren: Man kann sich eingestehen, dass man in Stereotypen festhängt und die Realität komplexer ist. Aber das ist anstrengender als das Gegenteil, nämlich das Opfer abzuwerten und in Frage zu stellen, ob es ein Opfer ist.

Wird man eigentlich zur Menschenfeindin, wenn man sich mit solchen Themen täglich beschäftigt?

Nein, ganz im Gegenteil. Alle, die mich privat kennen, wissen, ich liebe es, mit Menschen zusammen zu sein, die ich mag. Ich bin ein sozialer und lebenslustiger Mensch. Ich wusste schon immer, wozu Menschen in der Lage sind. Aber im normalen Alltag habe ich, so wie alle anderen Menschen auch, hauptsächlich mit sozialen Interaktionen zu tun, die positiv sind, mit Freundschaften, mit Familie, mit Menschen, die ich mag.


Lydia Benecke (41) arbeitet seit 2009 als Kriminalpsychologin schwerpunktmäßig im Bereich der Rückfallprävention, in einer sozialtherapeutischen Einrichtung des Strafvollzugs und einer Ambulanz mit schweren Straftätern. Außerdem ist sie als Fortbildnerin, unter anderem für die Polizei, tätig. Sie hält regelmäßig Vorträge für ein breites Publikum und mehrere Bücher geschrieben, darunter „Auf dünnem Eis, Sadisten“, „Psychopathinnen“ und als Co-Autorin „Aus der Dunkelkammer des Bösen“.

Mit Mousse T. macht sie den ARD-True-Crime-Podcast „Melody of Crime“ über Kriminalfälle in der Kulturbranche, von dem gerade die zweite Staffel läuft.