Der Essener Theaterautor Akın Emanuel Şipal feiert mit „Akıns Traum“ Premiere am Schauspiel Köln. Ein Gespräch über die Macht der Geschichte.
Kölner UraufführungWie sich die Geschichte des Osmanischen Reiches an der Aldi-Kasse fortschreibt
Herr Şipal, ihr neues Stück „Akıns Traum“ ist Auftragsarbeit für das Schauspiel Köln. Wir frei waren Sie da in Ihrem Schreiben?
Akın Emanuel Şipal: Es war kein direkter Auftrag in dem Sinne, eher das Angebot, etwas zu schreiben. Ich wusste da schon, dass ich ein Stück über das Osmanische Reich schreiben wollte. Und das Schauspiel hat dann direkt Interesse bekundet.
In Ihren Stücken geht es oft um Fragen der Herkunft. Warum jetzt dieser geweitete geschichtliche Blick?
Was mich stark beschäftigt sind weniger Fragen der Herkunft, sondern Familiengeschichten, generationenübergreifende Erzählungen. Dinge, die man transportieren möchte, oder auch lieber nicht. Traumata, Themen, Fähigkeiten. Eben, weil das kulturübergreifend funktioniert. Auch eine rein türkische Familie ist selten rein türkisch, denn vor 150 Jahren war die Türkei noch ein polyethnischer Staat. Von dort aus bin ich dann zu den Osmanen gekommen. Ich hatte irgendwann erfahren, dass der Urgroßvater meiner Mutter im Osmanischen Reich ein Theologe war, der den vorletzten Sultan beraten hat. Mir ist dann schnell klar geworden, dass es da offensichtlich einen großen Bruch gab, dass ich überhaupt keinen Zugriff auf diese Geschichte habe. Dabei bin ich seit meiner Kindheit historisch interessiert, habe mich für die Römer und die Ägypter begeistert, was Jungs so machen.
Aber weniger für die Geschichte Ihrer türkischen Vorfahren?
Dafür, dass ich als Kind oft in der Türkei war und auch heute noch oft da bin, kenne ich die Geschichte relativ schlecht. Je mehr ich jetzt gelesen hatte, desto interessierter und neugieriger wurde ich. Man findet keine endgültigen Antworten, aber man versteht, wie unheimlich weitläufig und komplex dieses unendlich große Reich war.
Wenn schon keine Antworten, was für neue Fragen haben sich für Sie aufgetan?
Was ist unterwegs passiert? Die türkische Sprache kommt wahrscheinlich vom Ostchinesischen Meer, es gibt Ähnlichkeiten mit dem Koreanischen. Es gab eine Wanderung von Ostasien durch die eurasische Steppe nach Anatolien, eine lange Strecke und eine lange Zeit. Ich habe mich gefragt: Was ist das für ein Transfer? Erhält sich da irgendetwas oder ist es einfach Zufall, was weitergegeben wird und was nicht? Wie vermischt sich das, wie entstehen neue Identifikationspole? Wieso ist mit den Osmanen, die dann Konstantinopel erobert haben und dort sesshaft geworden sind, diese nomadische Bewegung zum Erliegen gekommen?
Das klingt, als würden Sie das bedauern?
Diese Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, die interessieren mich. Diese turksprachigen Gruppen vermischen sich mit Mongolen, mit anderen Gruppen, die teilweise Juden werden, wie die Chasaren am Kaspischen Meer. Die osmanische Kultur bewegt sich zwischen zwei Polen: der Heterodoxie, das ist die Kultur der Durchlässigkeit für andere religiöse Einflüsse, und der Orthodoxie, der islamischen Tradition, die mit der Eroberung von Mekka und Medina ganz wichtig wurde. Da hat sich viel verändert. Vorher waren die Osmanen in ihrer religiösen Praxis sehr pragmatisch und tolerant.
Im Stück geht es aber auch ganz direkt um ihr Verhältnis zu diesem Erbe, Sie kippen als „Alter Ego“ vom Feuchttücher kaufen in der Gelsenkirchener Innenstadt direkt in die osmanische Geschichte.
In den letzten 10, 15 Jahren sind viele Menschen aus Syrien in Gelsenkirchen angekommen, viele auch aus Bulgarien, Romnja und Sintizze. Und natürlich tummeln sich da auch viele polnisch- und türkischstämmige Menschen. Das sind alles ehemalige Provinzen des Osmanischen Reichs. Da ist ein großes Imperium zerfallen und dieser Nachhall, der hält so lange an, dass die Menschen immer noch als versprengte Nachhut nach Deutschland kommen, weil das sozusagen noch ein intaktes Imperium ist. Auch wenn hierzulande die Stimmung vorherrscht, dass man die besten Zeiten hinter sich habe. Ich finde diesen Gedanken interessant, dass man die Geschichte sozusagen sieht, dass diese großen Erzählungen in solchen Bewegungen sichtbar werden. Und dann stehe ich beim Aldi an der Kasse, und merke jemand spricht Türkisch, aber mit einem krassen Balkan-Akzent, den ich vorher noch nie wahrgenommen habe und dann übersetze ich, weil die Person nicht klarkommt, aus dem Deutschen ins Türkische und denke, interessant, dass man sich hier so begegnet, nachdem diese Menschen die türkische Sprache vielleicht in Rumänien oder Bulgarien gelernt haben, weil das eben eine Provinz des Osmanischen Reichs war. Also ist die Geschichte des Osmanischen Reiches auch ein Teil der Geschichte Gelsenkirchens geworden.
Tatsächlich beschäftigt sich die sogenannte deutsche Mehrheitsgesellschaft aber kaum mit der türkischen oder osmanischen Geschichte. Man interessiert sich herzlich wenig.
Ja, das ist schon ein blinder Fleck. Die Menschen, die aus der Türkei hierhergekommen sind, haben einen Bruch mitgebracht. Die kamen aus der jungen Türkischen Republik, aus einem Land, das versucht hat, sich von der osmanischen Vergangenheit loszulösen: Die Osmanen haben euch in den Ruinen gestürzt, hieß es dort, und wir, die jungen Republikaner, haben das Land gerettet. Irgendwie stimmte das auch, wobei der Preis relativ hoch ist, den man dafür gezahlt hat. Man hat dieses Polyethnische, diese Vielsprachigkeit verloren. Ich finde es ein bisschen kurios, dass jetzt Erdogan vorgeworfen wird, er sei neo-osmanistisch. Auf manche Fragen, auf die wir heute Antworten suchen, haben die Osmanen ihre ganz eigenen Antworten gefunden: Wie geht man mit kulturellen Unterschieden um, wie geht man mit Vielsprachigkeit um, wie geht man mit ethnischer Zugehörigkeit um? Das geschah nicht aus Nettigkeit, es ging darum, die Macht über große Gebiete mit verschiedenen Menschen zu erhalten. Daraus resultiert die Fähigkeit, viele verschiedene Erzählungen zu amalgamieren.
Wenn Sie sich im Stück entlang der Genealogie der osmanischen Herrscher bewegen, stoßen sie auf Typen, die man auch aus anderen Geschichten kennt, den Erobererkönig, den Zauderer, den Intellektuellen …
Sich eine solche Riesengeschichte vorzuknöpfen und in einem Theaterstück zu erzählen, beinhaltet ein Scheitern, da kann man gar nicht tief eindringen. Wir konstruieren unsere Umwelt und damit auch unsere Identität. Dieser Alter Ego im Stück konstruiert diese osmanische Vergangenheit und gleichzeitig prägt sie ihn mit. Es gibt so eine Art Rückprojektion durch die Träume, die ihm widerfahren. Dieses Verhältnis von „mir passiert etwas, aber ich gestalte es auch“, darum geht es im Stück.
Geschichte als Wunschtraum und Albtraum, der einen im Dunkeln überfällt?
Ja, es ist nicht nur ein Wunsch, sondern etwas, was einem unweigerlich passiert, wovor man sich nicht schützen kann. Akıns Traum vom Osmanischen Reich kann immer auch ein Albtraum sein: Das Reich zerfällt, wie können wir das aufhalten? Der Sultan will keine Nachfolger erzeugen, was sollen wir tun? Ich wusste vorher genauso wenig wie es wahrscheinlich das Publikum wissen wird. Die Frage war also auch, wie erzählt man von etwas, das niemand kennt? Niemand weiß, dass 100 Jahre lang die Sultansmütter eines der größten Imperien geleitet haben, oder dass mit Thessaloniki die größte jüdische Stadt über Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft existiert hat. Ich wollte, dass man ein Gefühl für die Geschichte bekommt, für den Zauber, in die Vergangenheit einzutauchen und sie auferstehen zu lassen.
Stefan Bachmann wird Ihren Text inszenieren, es ist Ihre erste Zusammenarbeit. Wie verlief die?
Stefan Bachmann und ich haben viel zusammen im Text gelesen, ich habe mir immer wieder Feedback bei ihm geholt und auch Vorschläge von ihm übernommen. Die Übergabe verlief entsprechend entspannt. Ich wollte mich bei diesem Stück stärker rückversichern als bei anderen. Da war es gut, dass Stefan keinen blassen Schimmer von der Materie hatte, weil das die Voraussetzung ist, die wohl auch die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer mitbringen. Ich wollte kein bierernstes Stück schreiben. Das ist ja die Gefahr, wenn man etwas erklären will, dass man das währenddessen erstickt. Ich wollte Spaß haben und ich wollte diesen Spaß auch vermitteln, diese Leichtigkeit, mit der man auch durch Geschichtsbücher blättern kann.
Es gibt auch eine längere Passage im Stück, wo Sie sich fragen, warum Sie überhaupt über Migrationsthemen schreiben müssen, während andere den genialischen Dichter geben können.
Das denke ich mir immer wieder, beim nächsten Stück spielt der türkische Background gar keine Rolle. Aber ich bin nun mal wirklich historisch interessiert. Mein Interesse an den Osmanen ist einfach ein persönliches Interesse. Ich hätte sagen können, ich mache das nicht, damit ich nicht auf dieser Schiene kleben bleibe. Aber ich bin ja hier aufgewachsen, habe viele Privilegien genossen, musste mir das Schreiben nicht von der Rippe absparen. Natürlich habe ich auch immer wieder Irritationen erlebt, aber die sind ein Motor für das Schreiben. Wenn ich also von der Türkei erzähle, erzähle ich nicht von meiner Herkunft, sondern von einem Land, in dem ich nicht lebe, das mich aber interessiert, weil ich es nicht verstehe. Und vielleicht habe ich mir das vorgenommen, weil ich das Gefühl habe, auch ein Recht zu haben, diese Geschichte zu erzählen.
Weil es sonst niemand tut?
Ich habe noch nie davon gehört, dass diese Geschichte irgendwo eine Rolle gespielt hat in Deutschland, dabei finden Sie in der Literatur, in der Oper und im Theater jede Menge Türken. Bei Cervantes, bei Mozart in der „Entführung aus dem Serail“.
Also im orientalistischen Sinne ...
Ja, dabei bin ich großer Mozart-Fan. Aber es hilft vielleicht auch, wenn noch mal eine andere Perspektive dazu kommt.
Akın Emanuel Şipal, 1991 in Essen geboren, ist bereits mit seinem ersten Theaterstück „Vor Wien“ 2012 bundesweit bekannt geworden. Für sein Stück „Mutter Vater Land“ hat er 2022 den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage gewonnen. Neben Theaterstücken schreibt Şipal Drehbücher für Filme.
„Akıns Traum“ feiert am 23. Februar seine Uraufführung am Schauspiel Köln unter der Regie von Stefan Bachmann. Es ist Bachmanns letzte Inszenierung in Köln, in der kommenden Spielzeit wechselt er als Direktor ans Wiener Burgtheater.
Termine: 23., 25., 29. Februar; 3., 16. März, Depot 1, 110 Minuten