AboAbonnieren

Konzert in DüsseldorfDie schöne Illusion, mit Bruce Springsteen an der Bar zu feiern

Lesezeit 5 Minuten
Bruce Springsteen trägt eine schwarze Hose und ein schwarzes kurzärmeliges Hemd. Er steht breitbeinig mit Gitarre vor dem Podest seines Schlagzeugers Max Weinberg.

Bruce Springsteen am Mittwochabend in der Düsseldorfer Merkur-Spiel-Arena

Rock-Legende Bruce Springsteen gab am Mittwochabend in der ausverkauften Merkur-Spiel-Arena das erste von drei Deutschland-Konzerten. Unsere Kritik.

Bruce Springsteen hat geheult. Nicht verkniffen wie ein Mann alten Schlages, nicht hemmungslos wie ein Kind. Aber hemmungslos schön, wie ein Kojote, der den Sonnenuntergang beklagt. Es ist der Ausklang von „The River“, dem vielleicht schönsten von etlichen Springsteen-Songs über Menschen, die am Ende ihrer Jugend einsehen müssen, dass sie ihren beengten Verhältnissen nicht entkommen werden. Er spielt ihn nur selten auf dieser Tour, da hat Düsseldorf Glück gehabt.

Natürlich ist die Merkur-Spiel-Arena ausverkauft, 43 000 dicht gedrängte Menschen, ausgerichtet auf einen Mann in Schwarz und seine ernüchternden Botschaften von der Arbeiterfront. Eigentlich ernüchternd, müsste man relativieren. Denn wenn Springsteen seine Songs zum Leben erweckt, verwandelt sich Hoffnungslosigkeit in Trost, in eine Feier des Lebens.

Bruce Springsteen in Düsseldorf: „The Boss“ zeigt hemmungslos schön

Es ist in eine Art von Abendmahlswunder, heftig eingebimmelt vom einmaligen Klang der E-Street-Band. Sie ist an diesem Abend auf 17 oder 18 Köpfe angeschwollen, es ist schwer zu zählen, ein Garagenrock-Orchester. Die Saxofonparts des verstorbenen Clarence Clemons übernimmt seit elf Jahren sein Neffe Jake. Es ist eine Familienangelegenheit.

Das Wunder geschieht Lied um Lied, dazwischen wird höchstens mal angezählt. Worte sind überflüssig, wenn bereits mit jeder Faser des Körpers kommuniziert wird. Aber jetzt, nach „The River“, ungefähr in der Mitte des knapp dreistündigen Abends, holt er doch länger aus. Die kurze Rede hat er selbst verfasst, im Stil seiner intimen Broadway-Show, und sie wird auf den LED-Wänden deutsch untertitelt.

Die Erkenntnis, die Bruce Springsteen am Sterbebett ereilte

Sie ist ihm offensichtlich wichtig, liefert sie doch den Grund für die nicht selbstverständliche Tatsache, dass sich Springsteen auch im fortgeschrittenen Alter von 73 Jahren noch in Stadien die Seele aus dem Leib schreit. Er war 15, erzählt Springsteen, als ihn George Theiss, der Boyfriend seiner Schwester, eines Sommernachmittags einlud, für seine Band vorzuspielen. In einer kleinen Bruchbude – klassisches Springsteen-Detail – im Schatten der Teppichfabrik der Stadt fand er seine erste Rock’n’Roll-Band: „50 Jahre später, an einem anderen Sommertag, stehe ich an Georges Sterbebett und mir wurde klar, dass ich das letzte lebende Mitglied dieser Band sein würde.“ Das sei das Geschenk des Todes an die Lebenden, „eine erweiterte Sicht auf dieses Leben selbst“.

„Last Man Standing“ heißt das Stück, bei dem er sich anschließend selbst zur akustischen Gitarre begleitet, irgendwann setzt noch eine traurige Trompete ein und Springsteen bittet nicht um Vergebung, sondern darum, dass ihn der Herr noch einmal dorthin hebe, wo es hart und laut rocke, „irgendwo tief in das Herz der Menge“.

Bruce Springsteen am 21. Juni 2023 in der Düsseldorfer Merkur-Spiel-Arena

Bruce Springsteen nimmt ein Bad in der Menge

Amen und dreimal Amen. Hier gehört er hin, hier ist er der Boss. Wie er seine Gitarrensaite zieht, die jaulende Note lange genug hält, um sich noch einmal die Restfrisur glattzustreichen. Wie er seine Gitarren von Song zu Song wechselt, indem er sie den Stage Hands entgegenfliegen lässt. Wie er sein Mikrofon mit Little Steven teilt, dem Piraten von der New-Jersey-Küste, der ihm seit den 1960ern die Treue hält. Wie er seiner Band die Melodie vom gelobten Land („The Promised Land“) entgegenbläst, wütend und triumphal zugleich, wie er sich dann seinem Publikum zuwendet und einer Frau aus der ersten Reihe die Mundharmonika schenkt, die noch seinen Atem enthält. Die kann ihr Glück kaum fassen und steht doch nur stellvertretend für die gesamte Arena.

Zuerst reiht sich Rocker an Rocker, auf „The Ties That Bind“ – das hat er schon ewig nicht mehr live gespielt – folgt „No Surrender“, kurz darauf brüllen Zehntausende die Wochenend-Hymne „Out in the Street“ mit. Lauter Alltagsausbruchsversuche, heroisch nur im Scheitern, aber was will man mehr?

Überraschenderweise gerät „Kitty’s Back“ vom leichtfüßig groovenden Frühwerk „The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle“ zum frühen Höhepunkt, Springsteens Gitarrensolo klingt wie der Aufschrei einer räudigen Hinterhofkatze, der Song wandelt sich vom langsamen Blues zum Honkytonk, endlich kommen auch die Bläser zum Einsatz und 43.000 Menschen geben sich der schönen Illusion hin, mit Bruce Springsteen an der Bar zu feiern.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen ehrlichen Job gehabt.
Bruce Springsteen

Der Sänger hatte in seiner Broadway-Show vor ein paar Jahren seinen Zaubertrick selbst enthüllt: Bruce Springsteen, der Arbeiterheld, sei nur eine Persona: „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen ehrlichen Job gehabt, nie schwere Arbeit geleistet.“ Nennen wir es Kunst. Höchste Kunst.

Zehntausend Herzen bersten vor Sehnsucht, wenn Springsteen von „My Hometown“ singt, dabei erzählt er von Verwahrlosung, vom Verlust der Gemeinschaft. „Because the Night“, für das Patti Smith Springsteen die Worte und er Smith ihren größten Hit geschenkt hat, endet mit einem ekstatischen Gitarrensolo von Nils Lofgren. Gut so, der Boss ist nämlich schon ziemlich heiser. Und „Badlands“, noch so eine Operette vom vergeblichen Versuch, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, gerät zum Kollektiv-Orgasmus.

Der Zugabenteil beginnt mit dem Doppelschlag von „Born in the U.S.A.“ und „Born to Run“. Es ist viel geschrieben worden über die Missverständlichkeit des ersten Stücks. Dass der vermeintliche Hurra-Patriotismus in Wahrheit eine Klage über den Verrat am amerikanischen Traum sei, aus der Perspektive eines gestrandeten Vietnam-Rückkehrers. Aber selbstredend ist der Song absichtsvoll missverständlich, das macht ja seinen Reiz aus.

Für ein gerütteltes Maß an Populismus war sich Springsteen nie zu schade. Sonst könnte er auch keine Stadien füllen und das wäre doch sehr bedauerlich. Auch in Düsseldorf, auch noch mit 73, reißt er sich zu „Dancing in the Dark“ das Hemd auf. Nimm das, Tod! Die entblößte Brust wird gleich wieder bedeckt. Es sind zum Glück nur Druckknöpfe.