Konzert in KölnDeichkind spielen Karneval mit Anti-Nazi-Slogan
- Dass die Konzerte von Deichkind besonders sind, ist schon klar – die Gruppe hat sich längst einen Ruf als Live-Band aufgebaut.
- Beim Konzert in Köln stellte sie das erneut unter Beweis: bildgewaltig, lautstark mit Krawall und Remmidemmi.
- Und so schaffen es Deichkind sogar, Bass und Bier, selbstgebastelte Kostüme und Anarcho-Charme mit Pierre Bourdieu zu vereinen.
Köln – Lars Eidinger liegt nackt in einem weißen Raum, seine Füße sind gefesselt. Jetzt wird der Schauspieler und Selbstdarsteller an einem Seil kopfüber in die Höhe gezogen und in einen Zylinder mit blauer Farbe getunkt. Eventuell handelt es sich um jenes patentierte Ultramarinblau, in das Yves Klein nackte Frauen zu tränken und als menschliche Pinsel zu benutzen pflegte.
Nicht anders Eidinger, der nun völlig verschlumpft über den jungfräulich weißen Boden geschleift wird. Bis der von Action-Painting-Farbbahnen verschmiert ist, und in diesen ausgebleicht der Name „Deichkind“ zu lesen ist. Bis die atmosphärische Elektrogeige von einer stumpf insistierenden Basstrommel im Four-to-the-Floor-Rhythmus abgelöst wird. Kunstlicht gewittert, der weiße Vorhang, der als Projektionsfläche für die Eidinger-Performance gedient hatte, öffnet sich.
Kappen, Sonnenbrillen und blaue Farbabdrücke
Die Bühne füllt sich mit Tänzern, sie tragen Kappen, Sonnenbrillen und weiße Kostüme, mit blauen Farbabdrücken verziert. Wer zum Kern der Band gehört, wer Beiwerk ist, lässt sich aus dem Unterrang der Lanxess-Arena kaum ausmachen. Einige aus der Spaßbrigade haben jedenfalls Mikrofone und erklären jetzt lautstark, dass sie keine Party wollen, dass auch mal Schluss sein muss mit Remmidemmi und Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Die Menge im Innenraum flippt wie aufs Stichwort aus. Dass der Exzess wider besseren Wissens der Schönste ist, weiß jedes Kind.
Deichkind waren einst Teil der Hamburger Hip-Hop-Szene, doch als diese von harten Jungs aus Berliner Plattenbausiedlungen in die Bedeutungslosigkeit gedisst wurde, reüssierte das Trio aus Bergedorf mit Kirmestechno und Sauf-Aufforderungen. Auf den ersten Blick schien das künstlerischer Selbstmord zu sein, und tatsächlich zerbrach die Freundschaft am neuen Konzept, heute ist nur noch Philipp Grütering aus der ursprünglichen Besetzung dabei.
Doch der Ausflug in Scooter-Gefilde hatte von Anfang an etwas von Konzeptkunst, in ihrer Sperrmüll-Kostümierung aus Mülltüten, Schaumstoff und Gaffer-Tape sahen die Deichkinder aus wie die postapokalyptischen Erben eines Bauhaus-Balletts. Und sind die blinkenden, blickdichten Tetraeder-Hüte, die zu ihrem Markenzeichen wurden, nicht die ideale Verkörperung des Wutbürgers im Verblendungszusammenhang?
Selbstgebastelte Kostüme und Anarcho-Charme
Jedenfalls katapultierte die Ballermann-Kehrtwende Deichkind an die oberste Zeile der Festival-Plakate und nun eben auch in die Kölner Mehrzweck-Arena, große Sause garantiert. Die Anleihen bei Kraftwerk, Daft Punk und – was das Anarcho-Spektakel auf der Bühne angeht – Udo Lindenberg sind offensichtlich. Noch viel offensichtlicher aber ist der Charme des Selbstgebastelten, von den Kostümen bis zur Choreographie, mit dem sich Deichkind von ihren Vorbildern emanzipiert haben.
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LED-Schirme sucht man hier vergebens, bekommt dafür aber einen Nomaden mit mannsgroßen Rucksack aus dem es dampft und leuchtet wie aus dem Kofferraum in „Repo Man“, dazu Ausdruckstänze unter Rettungsdecken, einen nackten Mann auf motorisierten Rollschuhen, Schnaps aus Schläuchen, Lappenclown-Kostüme aus Tennissocken und eine karnevalistische Fahrt durchs Publikum im Riesenfass (es werden sogar Strüßjer geworfen), dazu wird einen riesige Fahne geschwenkt: „Kein Bier für Nazis“. Der Exzess hat Haltung: „Kein Gott, kein Staat, lieber was zu saufen“ skandieren sie in „Hört ihr die Signale“. So bringt man die Verhältnisse zum Torkeln.
Die Stücke vom aktuellen Album „Wer sagt denn das?“ verhandeln von der Filterblasen-Vernunft bis zum ultraverfeinerten Konsum („Dinge“, „Richtig gutes Zeug“) alle Unbill unserer Zeit, die Videos sind von dadaistischer Bildkraft. Live beeindruckt, wie die Bandmitglieder in einem Performance-Kollektiv aufgehen, das schließlich die gesamte Arena umfasst.