Die Brüder D'Addario aus New York beglückten im Club Volta mit perfekten Harmonien.
Konzert in KölnMit den Lemon Twigs auf Wirklichkeitsflucht
Nostalgie ist das vorherrschende Geschäftsmodell der Kulturindustrie und Musik das ideale Gefäß für die Verklärung des Gestern. „Es gab nicht nur noch nie eine Gesellschaft, die so besessen von den kulturellen Artefakten ihrer unmittelbaren Vergangenheit war, sondern es gab auch noch nie eine Gesellschaft, die so leicht und so umfangreich auf die unmittelbare Vergangenheit zugreifen konnte.“ Schrieb der britische Musikkritiker Simon Reynolds in seinem Buch „Retromania“. Das war 2011, im Rückblick klingt Reynolds Verwunderung über unseren Daueranschluss ans Archiv schon beinahe naiv.
Es gibt derzeit wohl keine Band, die das Unbehagen an der Gegenwart, die Sehnsucht nach vorgeblich harmonischeren Zeiten so perfekt in Drei-Minuten-Songs gießt wie The Lemon Twigs, die Brüder Brian und Michael D'Addario aus Long Island im US-Bundesstaat New York.
Mit ihren neuen Alben haben die Lemon Twigs eine große musikalische Klarheit erreicht
Deren Debüt „Do Hollywood“ charmierte vor acht Jahren Pop-Nostalgiker: Warum nur klangen ein 17- und ein 15-Jähriger wie ein unveröffentlichtes Todd-Rundgren-Album von 1972? Es folgten skurrile Juvenilia wie ein barock ausuferndes Konzeptalbum über einen verliebten Schimpansen, der die High School besucht. Doch mit ihrem vierten Album „Everything Harmony“ und dem im Mai erschienenen Nachfolger „A Dream Is All We Know“ haben die Brüder eine musikalische Klarheit und lyrische Tiefe erreicht, die den Rahmen des reinen Epigonentums sprengt.
Im Köln-Mülheimer Club Volta eröffnen die Lemon Twigs, ergänzt um ihren Schlaghosen tragenden Schulfreund Danny Ayala und den Schlagzeuger Reza Matin, mit der Powerpop-Salve „My Golden Years“. Die hat ihre Rückwärtsgewandheit bereits im Titel eingeschrieben, und dann: die Beatles-Harmonien, die Byrds-Gitarren, der Beach-Boys-Satzgesang.
Mehr noch als die großen Gruppen der 1960er Jahre zitieren die Zitronenzweigchen deren legitime Nachfolger, Badfinger und Big Star. Die B-Bands der 70er konnten an die Erfolge ihrer Vorbilder nicht anknüpfen, heute verehrt man sie als Kult-Acts gerade wegen ihrer Randständigkeit und ihres tragischen Scheiterns.
„In meinem Kopf bin ich anders, bin ich jemand anderes“, singt Michael, der jüngere Bruder. In seinem Kopf herrsche die ganze Zeit über Traurigkeit und die Dinge, die er finde, behalte er lieber für sich selbst, teile sie mit niemandem.
Natürlich werden auch die Beach Boys gecovert
Darin unterscheidet sich die Privat-Retromanie der Lemon Twigs vom industriellen Ausschlachten kultureller Referenzen, sie ist kein Gleitmittel, sondern ein Stolperstein, der ihren Anschluss ans zeitgenössische Popgeschehen verhindert. Schon ihr Vater hatte versucht, ein Star im Musikgeschäft zu werden. Seine Söhne feiern die Vergeblichkeit dieses Unterfangens.
Man kann sich schwerlich einen schöneren Song vorstellen als „Any Time of Day“. Die Band wechselt die Instrumente, Michael D'Addario setzt sich hinters Schlagzeug, Brian übernimmt den Bass – es ist natürlich der Violinbass von Höfner, den Paul McCartney berühmt gemacht hat – und singt: „Man sagt, dass Menschen sterben, um Platz für all die Jungen zu schaffen.“ Ist das nun traurig oder beruhigend?
Wehmütig klettert der Song immer weiter in die Höhe, bis sich die Spannung im perfekten Harmoniegesang der Band auflöst, es ist ein ewiger Kreislauf, den D'Addario hier beschreibt, eine Aufforderung zum „Stirb und werde!“, ein kalifornischer Remix von Goethes verrätseltem Gedicht „Selige Sehnsucht“.
Prompt covert die Band „You're So Good to Me“ aus dem „Summer Days (And Summer Nights!!)“-Album der Beach Boys, später folgt noch als letzte Zugabe Del Shannons „Runaway“. Es ist Musik, für die selbst die Eltern der Brüder viel zu jung sind, aber an diesem Samstagabend im Carlswerk klingt sie noch einmal wie der Pop zur Zeit.
Vorangegangen war ein kleines Akustik-Set von Brian D'Addario an der spanischen Gitarre, das die Sehnsuchtswehen mit Songs wie dem McCartney-haften „Corner of My Eye“ und der pastoralen Ballade „When Winter Comes Around“ in den roten Bereich ausschlagen ließ. Das ist viel zu viel Applaus für meinen großen Bruder, beschwert sich Michael D'Addario, der zuvor vom Älteren als „Copilot ehrenhalber“ abgetan wurde. Aber das ist bloß geschwisterliche Frotzelei, ihre Kompositionen – Michaels sind oft etwas ungestümer, er ist verantwortlich für die rockigere Ausrichtung des aktuellen Albums – ergänzen sich so ideal wie ihre Stimmen.
Die Harmonie zwischen der Band und ihrem Kölner Publikum könnte ebenfalls kaum enger sein. Wer möchte schon über Eskapismus diskutieren, wenn er glücklich ist?