Kraftwerk in BonnWenn 25.000 Menschen 3D-Brillen aus den 50er Jahren tragen
Bonn – Es ist ein herrliches Bild, und auch ein bisschen gaga: 25.000 Menschen tragen im Bonner Hofgarten weiße Papp-3D-Brillen. Als wären sie alle gemeinsam zurück in die Zukunft der 1950er Jahre gereist, um sich einen Monsterfilm im damals populären Gimmick-Format anzuschauen.
Ob Ralf Hütter, Mitgründer und einzig verbliebenes Mitglied der Düsseldorfer Band Kraftwerk, die Absurdität des Bildes zu schätzen weiß? Aber sicher. In seinem Neoprenanzug mit Gittermuster sieht der 76-Jährige wie ein Raumpatrouillenkommandant aus, der von seiner meuternden Mannschaft auf einem fernen Planeten ausgesetzt wurde.
Aber er ist ja nicht allein, hinter den vier akkurat aufgereihten Arbeitspulten stehen – identisch gewandet – noch Fritz Hilpert, Henning Schmitz und Falk Grieffenhagen. Letzterer erst seit 2012, nachdem Florian Schneider still und leise nach vier Jahrzehnten die Leitungen zum Kraftwerk gekappt hatte. Der Meister des Vocoders starb im Frühling 2020 und sein Tod wirkte auch im Angesicht des Ewigkeitsanspruchs der Musik als Schock.
Popmusik, die ihre Zeit überdauern will? Das ist nicht das einzige Paradoxon im Turbinenraum der wichtigsten und einflussreichsten deutschen Band. Kraftwerk ist streng, lakonisch und doch hochkomisch. Konzeptuell und kunstgeschichtlich von höchstem Anspruch, aber kinderleicht zu hören. Nostalgisch und hellsichtig zugleich. Klassisch ausgebildet, doch den Tanzflur suchend: Romantisch schwingende Melodiebögen spannen sich über harte Sequencer-Beats. Eine Überlandleitung, so schön wie funktional, ist die bildliche Entsprechung der Kraftwerk-Musik.
Das Freiluftkonzert im Hofgarten war eigentlich zum Beethovenjahr 2020 geplant, da wäre der 250. Geburtstag des Bonner Komponisten auf den 50. der Düsseldorfer Formation gefallen und Geniekult auf den Wunsch getroffen, die Musik den Maschinen und robotischen Avataren zu überlassen. Eine Ode an die Freude über den Vorsprung durch Technik.
Zeitreisende, die im Ufo landen
Doch zwei Jahre Verspätung fallen bei den Zeitreisenden aus der Mintropstraße nicht wirklich ins Gewicht: Gleich die ersten drei Stück aus dem „Computerwelt“-Album sind unmöglich auf einem Zeitstrahl zu verorten: „Nummern“ hat die minimalistischen Strömungen des Techno vorweggenommen, aber die liegen inzwischen auch schon in ferner Vergangenheit.
„Computerwelt“ erinnert in seinen ersten Zeilen – Interpol und Deutsche Bank/FBI und Scotland Yard/Flensburg und das BKA/Haben unsere Daten da – an die Zeiten von Rote Armee Fraktion und Rasterfahndung und hat zugleich schon 1980 den Überwachungskapitalismus unserer Gegenwart vorausgesehen. „Programmier die Zukunft mir“, wie Hütter anschließend in „Heimcomputer“ in sein Headset singt.
Die 3D-Animationen wirken auch auf freiem Feld, ein großes „Ah“ entfährt dem Publikum, wenn zu „Spacelab“ eine Satellitenantenne aus dem Orbit in den Bonner Nachthimmel zu ragen scheint.
So müssen Jugendlichen in den 50ern reagiert haben, wenn die Kralle der Kreatur aus der schwarzen Lagune im Autokino aufs Wagendach zu klopfen schien. Willkommen zurück in einer Zeit, als das Staunen noch geholfen hat.
Der Sound ist so glasklar, wie man das im Open-Air-Kontext wirklich nie hört und manchmal scheinen die Klänge die staunenden Hörer zu umrunden, das lustige Sonntagsgefahre auf der „Autobahn“, oder der Dopplereffekt des TEE-Zuges.
Und selbst für die aufmerksamsten Fans gibt es an diesem Sonntagabend noch jede Menge überraschender Vor- und Rückschauen. „Ätherwellen“ aus dem 1975er Album „Radio-Aktivität“ war schon länger nicht mehr im Programm, in seiner aktuellen, beschleunigten Version wirkt das doch eigentlich träumerische Stück wie ein Zwilling von Giorgio Moroders und Donna Summers Single „I Feel Love“. Oder hat Hütter da eine alte Version auf der Festplatte gefunden, die dem Südtiroler Discokönig vorausgeeilt war?
Ist das schon Jazz?
Obwohl seit 2003 keine neue Musik mehr erschienen ist und der Kern des Werks spätestens 1986 abgeschlossen war, wirken Kraftwerk im Hofgarten weniger museal als erstaunlich spielfreudig. Sie lassen sich bekanntlich hinter ihren Pulten nicht auf die Finger schauen, aber hier werden nicht nur Klänge abgerufen, hier wird musiziert. „Kraftwerk? Das ist Jazz!“, behauptete das ehemalige Mitglied Karl Bartos vor ein paar Jahren im Gespräch.
Und er hat Recht. Zwischen den altbekannten Klängen entdeckt man wunderbare kleine Solopassagen: Das Industrial-Geklöppel in „Trans-Europa-Express“, etwa, ein kurzer Detroit-Techno-Spuk in „Tour de France“, eine schöne Adagio-Version von „Non Stop“. Zur Zugabe überlassen die vier Kraftwerker die Bühne kurz den nach ihnen geformten Robotern, wie gewohnt.
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Aber es ist der menschliche Faktor, der an diesem Abend wahrhaft berührt. Wenn Ralf Hütter um 23 Uhr schließlich ganz allein auf der Bühne steht und die letzten Akkorde singt, ist seine Stimme mit der Pult-Orgel gekoppelt: „Music Non Stop“ singt-orgelt Hütter, immer wieder. Da möchte man beinahe eine heiße Träne vergießen. Und geht mit dem versöhnlichen Gedanken in die Nacht, dass es immer weiter gehen wird, die Zukunft war ja längst da.