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Chart-KolumneIch mache das aus beruflichen Gründen!

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Verdrängte Capital Bra zur Freude unseres Kolumnisten von Platz eins der Album-Charts: Kummer.

  1. War früher alles besser? In den Musikcharts ganz bestimmt! Sicher? Na gut, vielleicht auch nicht.
  2. Jede Woche hört sich unser Kolumnist Marcus Bäcker in seiner Glosse „Neu in den Charts”durch die Hitliste – und findet dabei Entsetzliches wie Schönes.
  3. Diesmal freut er sich über Kraftclub-Frontmann Kummer, für ordentlich Rabatz im Hoheitsgebiet der Oberflächen-Fetischisten sorgt.

Ehrlich gesagt gehe ich nicht davon aus, dass Fans von, sagen wir, Shirin David, diese Kolumne gewohnheitsmäßig lesen. Doch egal, nehmen wir für einen Moment an, sie täten es: Würden sie nach der Lektüre flugs das Davidsche Gesamtwerk aus der iTunes-Bibliothek schmeißen, sich einer kapitalismuskritischen Jugendorganisation anschließen, ihre Lieblingssneaker meistbietend verhökern und das Geld Oxfam spenden? Ich habe Zweifel. Erfolgsversprechender erscheint es mir, das System von innen anzugreifen. Subversion. Infiltration. Kummer! Äh, Kummer?

Ja, Kummer. So heißt der Sänger der Chemnitzer Band Kraftclub mit Nachnamen, und natürlich ist mir klar, dass diese Band nur bedingt von Menschen gehört wird, die ihr Leben dem Schaffen hart reimender Soziopathen gewidmet haben. Aber: Kummer hat es mit seiner Solo-Single „Wie viel ist dein Outfit wert“ in die Top 100 geschafft, auf Platz 93.

Fehlgeleitete Musikliebhaber und Rabatz

Und da es bekanntlich so einige fehlgeleitete Musikliebhaber gibt, die sich zwangsneurotisch alles anhören, was die Charts so hergeben (ich mache das aus beruflichen Gründen), stehen die Chancen gut, dass auch Fans von Shirin David diese Zeilen hier hören werden: „In einer Welt, in der du alles hättest werden können / hast Du Dich dafür entschieden, ein verkacktes Arschloch zu sein. (...) Solidarität hat Grenzen / Du würdest armen Menschen ja zur Seite stehen / Wenn sie es schaffen würden, einfach bisschen geiler auszusehen / Life ist super nice, da, wo man die Schuhe trägt / Life ist nicht so nice, da, wo man die Schuhe näht.“

Und dann, ja dann haut Kummer die Markennamen nur so raus, stellt diesbezüglich auch noch den allergrößten Provinezdepp-Rapper in den Schatten und schließlich die alles entscheidende Frage: „Aber wie viel ist dein Outfit wert?“

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Nun begrüße ich es durchaus, wenn Menschen auf ihr Äußeres achten. Sich für oder gegen eine Marke zu entscheiden, kann ein ästhetisches, popkulturelles, zuweilen sogar ein politisches Statement sein. Womit ich aber durchaus so meine Probleme habe, ist: besinnungsloser Konsumismus als einziger Lebenszweck, einhergehend mit galoppierender Stillosigkeit sowie intellektueller und moralischer Radikal-Verödung.

Da kommt Kummer gerade recht und sorgt kraftmeiernd für ordentlich Rabatz im Hoheitsgebiet der Oberflächen-Fetischisten. Klar ist das jetzt auch nicht unbedingt meine Musik. Aber dass Kummer in den Albumcharts ausgerechnet Capital Bra von Platz 1 wegkegelt, das ist dann doch die beste Nachricht aus den Charts, seit es deutschen Gangsta-Rap gibt. Beziehungsweise: seit Euro-Trash erfunden wurde, beziehungsweise: seit ... also, seit ziemlich langer Zeit jedenfalls.

Was ich keinesfalls verschweigen möchte: Ich habe seit ebenfalls ziemlich langer Zeit zum ersten Mal wieder etwas von RAF Camora gehört – „Puta Madre“ auf Platz 5. Und Mensch, ich hatte völlig vergessen, dass der Mann im Prinzip moderne Musik für den Ballermann macht. Oder ist das neu? Schlimm jedenfalls. Richtig, richtig schlimm.