Ruth Marten verfremdet erotische Aufnahmen aus den 1920er Jahren. In Bergisch Gladbach sind ihre surrealen Werke jetzt zu sehen.
Kunstmuseum Villa ZandersAls Männer noch Tiere und Frauen Pralinen waren
Als Ruth Marten auf dem Flohmarkt einen alten Druck mit Chippendale-Möbeln entdeckte, war es um sie geschehen. 17 Jahre hatte die gefragte Magazin- und Buchillustratorin nebenbei Haare, Haarwuchs und Behaarung in allen denkbaren Facetten gezeichnet, doch nun, mit Mitte 50, schien es ihr an der Zeit, diese Obsession gegen eine neue einzutauschen. Marten besorgte sich Grafiken aus Büchern und Enzyklopädien vor allem des 18. Jahrhunderts und verpasste den dort abgebildeten Motiven einen lustvollen Stich ins Surreale. In ihrer Serie „Fountains & Alligators“ sprudeln den Modellen eines 1808 erschienenen Modejournals entweder Wasserfontänen aus allen möglichen und unmöglichen Körperöffnungen oder sie tragen ausgewachsene Alligatoren als kleidsames Zubehör spazieren. All diese Absonderlichkeiten könnte man beinahe für echt halten, denn Marten passt ihre von Hand aufgetragenen Ergänzungen perfekt dem Stil der Drucke an.
Bei den Rheinländern scheint Ruth Martens nostalgischer Surrealismus auf fruchtbaren Boden zu fallen
Vor sechs Jahren waren Ruth Martens träumerischen Übermalungen im Brühler Max-Ernst-Museum und seitdem mehrfach in der Kölner Galerie Van der Grinten zu sehen; bei den Rheinländern scheint ihr nostalgischer Surrealismus auf fruchtbaren Boden zu fallen. Jetzt zeigt das Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach die jüngste Serie der mittlerweile 75-jährigen New Yorkerin: An „All About Eve“, einer Serie übermalter Aktaufnahmen, die der weitgehend vergessene Fotograf Stanislaw Julian Ignacy Ostroróg um 1923 von Pariser Revuetänzerinnen machte, arbeitet Marten seit 2022. In den vor kunstvollen Hintergründen hingestreckten Nackten sieht Marten die Aufbruchsstimmung der wilden Zwanziger konserviert: „Die Jazz-Ära! Kino! Sex! Josephine Baker! Surrealismus! Gefährliche Ideen!“, schreibt sie. „Bei alledem hüpft mein Herz, wenn ich auf diesen Abzügen male, und ich fühle mich diesen Frauen ungeheuer verwandt. Wir sind ein Leib und eine Seele.“
Natürlich kann man das auch weniger schwärmerisch sehen. Wird die Freiheit der „neuen“ Frau mit Bubikopf auf den erotischen Originalaufnahmen nicht eher für den männlichen Blick hergerichtet, ausgebeutet und schon wieder domestiziert? Auch der „Playboy“-Gründer Hugh Hefner rühmte sich später, ohne zu erröten, mit seinen Häschen zur sexuellen Emanzipation der Frauen beizutragen. Anders als dessen Spielgefährtinnen wirken die von Marten mit feinem Pinsel behandelten Aufnahmen noch rührend darum bemüht, der Fleischbeschau die höheren Weihen antiker Statuen oder das Freiheitsversprechen des modernen Ausdruckstanzes zu verleihen.
An den fast subversiven Witz dieser Verrenkungen schließt Marten an
An den mitunter fast subversiven Witz dieser Verrenkungen schließt Marten lustvoll an, etwa, indem sie eine Nackte mit einem Schwan vermählt, einem „Vamp“ acht weitere Arme malt oder eine schwarz-weiße „Exotin“ in einer bunten Blumentapete verschwinden lässt. Wir begegnen einem Hermaphroditen, bei dem sich das Geschlecht am Längengrad des Bauchnabels teilt, einer bleichen Schönheit, die wie Wachs zerfließt, einer weiblichen Blume, die sich selbst bewässert, und einer Frau, die sich in einen Leuchtturm und damit, frei nach Freud, in einen Phallus verwandelt. Sind all diese Evas bei Ostroróg (der unter dem Künstlernamen Laryew publizierte) durchweg nackt, wie Gott sie schuf, kleidet sie Marten in kulturelle Codes und höheren Unsinn.
Laryew hinterließ eine Bildermappe mit 100 Arbeiten, von denen Marten bis Ausstellungsbeginn immerhin 62 verschönert hat (knapp 50 werden in Bergisch Gladbach präsentiert). Sie arbeitet damit auch gegen die Erkenntnis an, dass selbst Erotik langweilig wird, wenn sie einem im Überfluss des Immergleichen begegnet. Ganz ist auch Marten nicht gegen diese Gefahr gefeit. Marten-Kenner werden vieles wiedererkennen: Alligatoren, die, als Ausdruck männlichen Begehrens, zu Tanzpartnern und Spielgefährten werden, wallende Haare, in die sich die Körper zu verpuppen scheinen, oder Fontänen aus Leibesöffnungen.
Aber für Abwechslung ist gesorgt. Immer wieder greift Ruth Marten kulturelle Reminiszenzen der 1920er Jahre auf, um sie um die Tänzerinnen zu drapieren. Wir sehen Neonröhren, moderne Möbel und Anleihen beim mittlerweile klassisch gewordenen Surrealismus. Eine Montage, für die Marten ihre Tänzerinnen wie Pralinés in Konfektpapier wickelt, ist bittersüße Ironie. Bei ihr ist die nackte Frau immer mehr, als sich der männliche Blick vorstellen kann und mag.
Abgerundet wird die Schau in der Villa Zanders durch 30 ältere Arbeiten, die einen guten Eindruck von Ruth Martens Gesamtwerk geben. Ihre enzyklopädische Lust am Kuriosen wird nur übertroffen von ihrer unerschöpflichen Liebe zur surrealen Abweichung.
„Ruth Marten: All About Eve”, Kunstmuseum Villa Zanders, Konrad-Adenauer-Platz 8, Bergisch Gladbach, Mi., Sa. 10-18 Uhr, Di. 14-18 Uhr, Do. 14-20 Uhr, So. 11-18 Uhr, bis 21. April 2025. Der Katalog zur Ausstellung kostet 34 Euro.