In Thüringen werden AfD, BSW und Linke wohl über eine komfortable Fast-Zweidrittel-Mehrheit verfügen. Kommt Weimar wieder?
Lehren aus ThüringenGibt es in Ostdeutschland bald nur noch systemkritische Parteien?
Können wir aus der Geschichte lernen, etwa am Beispiel Thüringen? Dort steht am 1. September eine Landtagswahl an, die die politische Szenerie grundlegend verändern könnte – nicht nur in diesem Bundesland, sondern, mit ihren weitreichenden Schockwellen, auch in Berlin. Vor allem für die Parteien der im Bund regierenden Ampel verheißen die aktuellen Umfragen nichts Gutes – um es zurückhaltend zu formulieren. Alle drei Koalitionspartner – SPD, Grüne und FDP – drohen an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. In den beiden anderen ostdeutschen Ländern, in denen zeitgleich oder wenig später Wahlen stattfinden – in Sachsen und Brandenburg – sieht es nur graduell besser aus. Trotzdem ist die Situation und Konstellation in Thüringen eine besondere, weshalb die Augen der politischen Beobachter in diesen Tagen je nachdem sorgenvoll oder frohlockend vor allem nach Erfurt gehen.
Dort schneidet nämlich auch die schon derzeit nur zweitgrößte Oppositionspartei, die CDU, mit vorhergesagten 23 Prozent nicht berauschend ab. Stärkste Partei wird wohl die AfD mit rund 28 Prozent, es folgen auf Platz 3 das Bündnis Sahra Wagenknecht mit 19 Prozent und auf Platz 4 die Linke mit rund 16 Prozent. Im Ergebnis heißt das: Die von ihren Gegnern als „Systemparteien“ geschmähten demokratischen Traditionsparteien des Bogens von der Union bis zu den Grünen haben im Landtag keine Mehrheit mehr, die systemfeindlichen bis zumindest systemkritischen Parteien – AfD, BSW und Linke – werden über eine komfortable Fast-Zweidrittel-Majorität von 63 Prozent verfügen.
AfD und BSW werden sogar ohne die Linke über eine Sperrmajorität im Landtag von Thüringen verfügen
Nun haben BSW und Linke ein Bündnis mit Björn Höckes als rechtsextrem eingestufter AfD ausgeschlossen, aber es öffnen sich zumindest für das BSW Hintertüren. Programmatisch liegen AfD und BSW so weit nicht auseinander – in der Migrationsfrage und in der Frage der Ukraine-Unterstützung ist man schon jetzt ein Herz und eine Seele. Ein persönlicher Verzicht Björn Höckes auf ein Regierungsamt könnte da Hindernisse wegräumen. Wohlgemerkt: Wagenknecht hat Höcke und Maximilian Krah als Neonazis bezeichnet, nicht aber die Partei in ihrer Gesamtheit.
Das grundsätzliche Problem in Thüringen: Eine Koalitionsbildung um die AfD herum wird so, wie die Dinge liegen, schwierig bis unmöglich. Wer will, wer kann da mit wem zusammenarbeiten? AfD und BSW wiederum werden sogar ohne die Linke bei den Mandaten über eine Sperrmajorität verfügen, die jede konstruktive Regierungsarbeit der „anderen“ unmöglich machen dürfte. Wer da – vorerst wohlgemerkt nur im Land Thüringen – „Weimarer Verhältnisse“ heraufziehen sieht, betreibt nicht unbedingt Panikmache: In der Schlussphase der Weimarer Republik legten NSDAP und KPD im Reichstag und überhaupt im politischen Berlin vereint die demokratische Prozedur lahm.
Höcke will den Verfassungsschutz umkrempeln, Demokratieprojekte stoppen, Medienstaatsverträge kündigen
Was hingegen Höcke im Fall einer – nach wie vor unwahrscheinlichen – Regierungsübernahme der AfD in Thüringen zu tun gedenkt, lässt aus Sicht seiner demokratischen Gegner nichts Gutes ahnen: Er will unter anderem den dortigen Verfassungsschutz umkrempeln, Demokratieprojekte stoppen, Medienstaatsverträge kündigen und den Rundfunk staatlich finanzieren.
Erinnert die ganze Konstellation an etwas? Ja, das tut sie, und zwar auf eine sehr suggestive Weise. Denn der Vorgang, dem die Erinnerung gilt, spielte sich gleichfalls in Thüringen ab. Januar 1930: Vertreter der bürgerlichen Rechtsparteien im thüringischen Landtag bildeten seinerzeit eine Koalitionsregierung unter Einschluss der bereits erstarkten Nazipartei, Hitler-Intimus Wilhelm Frick wurde Innen- und Volksbildungsminister. In dieser Eigenschaft zettelte er eine wahre Kulturrevolution an: Er vertrieb das Bauhaus aus Weimar, berief den NS-Rasseforscher Hans F.K. Günther an die Jenaer Uni, entließ demokratische Beamte, und zumal solche mit SPD-Parteibuch, aus dem Staatsdienst, führte völkische Schulgebete ein, verhinderte die Aufführung missliebiger Theaterstücke. Ein gutes Jahr später war das dann vorerst vorbei, selbst für das Empfinden seiner konservativen Partner hatte Frick es zu toll getrieben. Aber der Schaden an der demokratischen Kultur war angerichtet, das Frick-Interim wurde zum Vorspiel dessen, was sich dann nach dem 30. Januar 1933 im großen Stil auf Reichsebene begeben sollte.
Die Union verspielte jede Glaubwürdigkeit, wenn sie die „Brandmauer“ einrisse
Indes ist kaum zu bestreiten: Bei genauem Hinsehen ist es mit den durch „Thüringen“ suggerierten Parallelen zwischen damals und heute nicht mehr ganz so weit her: Die gäbe es erst, wenn sich die thüringische CDU bereitfände, Höcke mit einem Regierungsamt zu betrauen. Danach sieht es aber einstweilen nicht aus – die Union unter ihrem Spitzenkandidaten Mario Voigt verspielte jede Glaubwürdigkeit, wenn sie die von ihr pompös errichtete „Brandmauer“ gerade in diesem Bundesland mir nichts, dir nichts einrisse.
Erledigt sich damit, bezogen auf die bevorstehende Wahl, ein Vergleich von 1930 und 2024? Diese Frage rührt an ein grundsätzliches Problem: Kann sich Geschichte wiederholen – und, falls ja, in welcher Weise und in welchem Umfang? Wer darauf mit einem beherzten „Nein“ antwortet, käme indes unter einen erheblichen Legitimationsdruck, wollte er überhaupt die Befassung mit historischen Ereignissen und Entwicklungen rechtfertigen. Was soll die Beschäftigung mit der Historie – von der Schule bis zur historischen Publizistik und Geschichtswissenschaft –, wenn wir eh nichts aus ihr lernen können?
In der Tat führt ein Vergleich von Thüringen 1930 mit Thüringen 2024 kaum zu Erkenntnissen, denen man die Überschrift „Da sieht man's ja wieder“ verpassen könnte – so einfach funktionieren unter der Erwartung eines unmittelbaren politischen Gegenwartsnutzens unternommene historische Vergleiche nicht. Das macht aber den Vergleich, der ja keine Gleichsetzung bedeutet, nicht von vornherein unsinnig. Er sollte halt nur den Ansprüchen methodischer Sauberkeit genügen.
Der Historiker Volker Ullrich hat in seinem neuen Buch über die Weimarer Republik in diesem Sinne aus der Untersuchung seines Gegenstandes eine sicher sehr allgemeine, aber gerade deshalb beherzigenswerte Erkenntnis gewonnen: „Demokratien sind fragil. Sie können in eine Diktatur umschlagen. Freiheiten, die fest errungen scheinen, können verspielt werden.“ Dieser Satz passt, und das lässt sich auch seriös begründen, zweifellos auf unsere Gegenwart. Der Schweizer Publizist Fritz René Allemann dekretierte zu besseren alt-bundesrepublikanischen Zeiten einmal, dass „Bonn nicht Weimar“ sei. Dass auch Berlin nicht Weimar ist, dafür werden viele informierte Zeitgenossen heuer nicht mehr die Hand ins Feuer legen wollen.
An dieser Stelle kommt sogar ein ziemlich konkreter Vergleichspunkt ins Spiel. Die Weimarer Republik erlag bekanntlich nicht nur dem totalitären Angriff ihrer Feinde, sondern scheiterte auch an der Schwäche ihrer Unterstützer und Befürworter. Leider können wir derzeit einschlägige Erosionserscheinungen auch und gerade in der ostdeutschen Parteienlandschaft beobachten. Dass eine starke demokratische Traditionspartei wie die SPD in Thüringen um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten muss, ist eine veritable Katastrophe. Und ein Skandal. Die Frage, was da grundsätzlich schiefgelaufen ist und schiefläuft, drängt sich nicht nur auf – sie müsste auch zügig und nicht unter Verabreichung von Beruhigungspillen beantwortet werden.