Journalistin Lena Gilhaus hat über „Verschickungskinder“ in Deutschland recherchiert und ein System von Zwang und Missbrauch aufgedeckt.
Lena Gilhaus über Kinderkuren„Ich habe viele Akten gelesen, auch über Todesfälle“
Frau Gilhaus, Sie haben sich mit dem Schicksal von Verschickungskindern auseinandergesetzt. Der Auslöser war die Geschichte Ihres Vaters. Was hat Sie hellhörig werden lassen?
Er hat immer wieder von der Kur auf Sylt mit seiner Schwester erzählt. Sie haben gesagt, dass sie sechs Wochen da waren und es ganz furchtbar war. Ich konnte mir als Kind überhaupt nicht vorstellen, dass man so viele Wochen von den Eltern getrennt wird und allein auf eine Insel geschickt wird. Das ist mir nahgegangen.
Welche Erfahrungen mussten die beiden machen?
Mein Vater und meine Tante stehen für das, was viele erlebt haben in den Kinderkurheimen. Sie waren keiner extremen Gewalt ausgesetzt, aber es war psychisch sehr belastend für sie. Als sie auf Sylt ankamen, wurden die Geschwister sofort getrennt. Ab diesem Zeitpunkt haben sie sich nur noch bei den Mahlzeiten aus der Ferne gesehen. Meine Tante ist ab dem ersten Tag zum Essen gezwungen worden. Sie sollten zunehmen, das war der Anspruch, sie seien angeblich zu dünn. Das waren ganz normale, zarte Kinder. Neben ihr hat sich ein Mädchen erbrochen, sie musste das Erbrochene essen. Beide kamen in Zimmer mit fremden Kindern, teilweise auch solchen, die viel älter waren und die die Kleineren häufig drangsaliert haben. Bei meinem Vater im Zimmer gab es auch sexuelle Übergriffe. Es gab keine Hilfe, beide haben sich verzagt und ausgeliefert gefühlt.
Wie sah der Alltag in dem Heim aus?
Der bestand aus Liegen, Luft und Bewegen. Gemeinsames Essen, dann Schuhe putzen draußen vor dem Heim, dann haben sie einen Strick in die Hand bekommen, jedes Kind hielt den Knoten eines Seils fest. Sie marschierten über den Strand, egal wie der Wind wehte. Wer nachts einnässte, musste mit der nassen Hose zur Strafe die ganze Nacht im Flur sitzen. Diese Erfahrungen haben ein tiefes Gefühl von Verlassenheit verursacht. Meine Tante hat das immer als Straflager bezeichnet, als hätte sie irgendetwas Schlimmes gemacht und sei jetzt im Gefängnis und müsste da eine Strafe absitzen.
Wann war Ihnen klar, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt?
Ich habe im Freundeskreis erzählt, dass ich etwas über Kinderkuren mache und war total schockiert, dass ich allein in meinem Bekanntenkreis sofort ein Dutzend Menschen hatte, die auch etwas damit anfangen konnten. Das konnte kein Zufall sein. Im Internet fand ich dann hunderte Betroffenenberichte. Da wusste ich, das muss ein Massenphänomen gewesen sein.
Sie kommen auf mehr als 15 Millionen Kinder, die in der BRD und der DDR nach 1945 verschickt wurden. Warum ist das Thema dennoch in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt?
Darüber habe ich auch sehr lange nachgedacht. Es ist vielleicht bezeichnend, dass jemand meiner Generation dieses Thema überhaupt erst gesehen hat oder sowas wie Entrüstung gespürt hat über das, was sie mir erzählt haben. Man muss sich vorstellen, manche Kinder waren erst zwei Jahre alt und wurden sechs Wochen bis drei Monate allein weggeschickt.
Dennoch gab es lange keinen großen Aufschrei.
Diese Generation der Babyboomer hat ja auch noch eine viel repressivere Erziehung erlebt. Kinder sollten sich nicht anstellen, funktionieren und machen, was die Eltern vorsahen. Es gab eine große Obrigkeitshörigkeit. Viele Betroffene haben mir erzählt, sie durften aus den Heimen nicht mitteilen, was ihnen dort passiert ist. Die Briefe wurden zensiert. Und wenn sie dann zurück zu Hause waren und erzählt haben, was los war, kam oft der Satz „Dann warst du halt auch frech, und das waren doch nur sechs Wochen“. Danach legte sich ein Schweigen über die Sache. Die Kinder selbst dachten, sie seien nur ein Einzelfall. So ist es dazu gekommen, dass Generationen diese Erfahrungen in sich eingekapselt haben.
Wann kam die Idee der Kuren auf? Viele denken bei Verschickungskindern an die NS-Zeit, aber Sie zeigen auf, dass das viel weiter zurückreicht.
Die Luftkuren wurden ab dem 18. Jahrhundert immer populärer. Mit der Industrialisierung gab es auch immer mehr Krankheiten in den Städten. Ärzte verstanden es sehr gut, ihre Kurorte zu vermarkten. Luft-, Sole oder Heilokuren sollten die Menschen von diesen Leiden heilen können. Und somit sind Kurorte immer populärer geworden. Sie waren der einzige Strohhalm gegen die Volkskrankheiten – ohne dass es jemals Wirkungsbelege gab. Am Anfang war das eher ein Luxusgut für die reichere Bevölkerung, dann wurden immer mehr Volkskurheime gefordert, auch für Kinder. Hinter diesem Versprechen eines Erholungsurlaubs stand auch ein repressiver Gedanke. Einerseits sollten die Kinder – häufig die von Arbeiter:innen – eine Zeitlang aus dem Milieu genommen werden, um positiv auf sie einzuwirken. Man wollte langfristig gesunde und fügsame Arbeiter. Die Kinder sollten zu einem gesunden und straffen Lebensstil erzogen werden, der Müßiggang nicht vorsah.
Die Idee des gesunden Volkskörpers, den dann ja später auch die Nazis proklamierten?
Ja, es sollten Instinkte und Triebe reduziert und bekämpft werden. Den Kindern wurde das Weinen verboten, sie sollten stets heiter sein und funktionieren. Da sieht man den Ursprung von dem, was ja auch noch die Nachkriegskinder in der Erziehung erlebt haben, diese Unterdrückung des Gefühls. Deswegen waren die Männer als Pädagogen auch höher anerkannt, weil sie sich als verstandesfähiger ausgaben. Die Frauen seien zu gefühlsduselig. Und so wurden Sachen empfohlen, von denen wir heute wissen, dass sie extrem schädlich sind, beispielsweise Baby und Mutter zu trennen nach der Geburt, um ganz exakte Stillrythmen durchzusetzen. Auch Harn und Stuhl sollten Babys nur noch zu vorgegeben Zeiten lassen.
Sie sind für die Doku mit Ihrem Vater und Ihrer Tante, aber auch mit anderen Betroffenen an die Kurorte gefahren, in denen sie damals waren. Wie haben Sie das erlebt?
Ich wollte meinen Vater nicht bedrängen. Ich hätte das nie gemacht, wenn die beiden darauf keine Lust gehabt hätten. Ich hatte Angst, dass es ihnen vielleicht schlechter geht, wenn sie damit konfrontiert werden. Aber am Ende der Reise habe sie so gelöst erlebt, es war schön, das zu sehen. Sie teilen das Gefühl mit vielen Verschickungskinder, die sich mit den Erlebnissen auseinandersetzen: Ich stehe hier als Erwachsener und fühle mich nicht mehr so ausgeliefert wie als Kind. So wie es im Therapeuten-Jargon ja auch gesagt wird: Ich kann mein eigenes inneres Kind festhalten und beschützen.
„Und wie haben Sie selbst diese Reisen erlebt?“
Das war für mich auch berührend. Ich war zum Beispiel in Niendorf an dem Kurheim der Thuiner Franziskanerinnen. Seit 2016 recherchiere ich jetzt zu diesem Heim, ich habe viele Akten gelesen, auch über Todesfälle. Und dann stand ich plötzlich selbst an dieser Stelle, die ich nur aus Dokumenten kannte. Hinter mir lag die Ostsee ganz still, und ich wusste, da ist ein Junge namens Dieter ertrunken, auf den nicht richtig aufgepasst wurde, und ein anderer Betroffener hat dort Missbrauch erfahren.
Bei Ihren Recherchen waren Ihnen die Träger durchweg keine große Hilfe, oder?
Mein Vater ist damals vom Bundesbahn-Sozialwerk verschickt worden. Ich habe mich bei der heutigen Stiftung Bahn-Sozialwerk und auch bei einem Ableger in Dortmund gemeldet, wo man mir gesagt hat, man habe keine Daten mehr. Irgendwann hieß es, dass wir uns nicht mehr melden und von weiteren Anfragen absehen sollen. Dabei haben sie sogar heute noch solche Häuser in Betrieb, sie könnten auch frühere Mitarbeiter befragen. Aber ich habe es nicht erlebt, dass sie sich proaktiv einsetzen. Die Infos musste ich mir in mühseliger eigener Recherche zusammensuchen.
Sah das bei anderen Trägern anders aus?
Die Thuiner Franziskanerinnen, die das Heim in Niendorf, wo mutmaßlich sexueller Missbrauch stattgefunden hat, in Trägerschaft hatten, haben zunächst Gewalt abgestritten und gesagt, das war eben zeittypische Erziehung. Dann ist das Thema Verschickungskinder größer geworden, es haben sich immer mehr Betroffene gemeldet und an die Politik gewandt. Da habe ich nochmal bei ihnen angeklopft und gefragt. Dann haben sie die Gewalt zugegeben, sich entschuldigt und auch tatsächlich einen ehemaligen Mitarbeiter angezeigt, aber die Taten sind inzwischen verjährt. Das kam zu spät. Und ich habe viele andere Beispiele von anderen Trägern, wo das genauso war, etwa bei der DAK.
Sie gehen auch auf frühere Erziehungskonzepte ein, die wir heute als schwarze Pädagogik bezeichnen.
In Praktikumsberichten, die ich gelesen hab, liest man den Zeitgeist heraus. Die jungen Frauen, die da beschreiben, wie der Kur-Alltag verläuft, hatten gute Absichten. Das waren oft Frauen aus dem Bürgertum. Sie wollten diesen sogenannten milieugeschädigten Kindern etwas Gutes tun. Sie auch durch Strenge in die richtigen Bahnen lenken, damit sie funktionierten. Und damit rechtfertigten sie dann auch erzieherische Gewalt.
Haben wir dieses Gedankengut heute überwunden? Sie erwähnen ja etwa den Kinderpsychiater Michael Winterhoff und seine umstrittenen Methoden, der lange in den Medien gehypt wurde.
Ich finde es problematisch, wenn man sowas in der Vergangenheit verortet und denkt: Gut, dass es vorbei ist. Dieses Gedankengut begegnet uns auch heute immer wieder in Familien, Kitas und anderen Einrichtungen, in denen Kinder betreut werden. Ich will mit diesem Buch darauf hinweisen, dass wir weiterhin wachsam sein müssen. Wenn etwa Winterhoff sagt, man müsse die Mutter-Kind-Symbiose trennen, muss man sich klar machen, welche Gedanken dahinterstehen. Sie kommen aus einer Zeit, die lange zurückliegt und die wir infrage stellen sollten.
Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage „Albtraum Kinderkur“ wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. Ihr Buch „Verschickungskinder – Eine verdrängte Geschichte“ erscheint am 6. Juli bei Kiepenheuer & Witsch. Gilhaus’ Doku zum Thema läuft am 3. Juli um 23 Uhr im Ersten.
Ein ausführliches Gespräch mit Lenau Gilhaus hören Sie im Podcast „Talk mit K“, den Sie bei allen Plattformen finden.