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lit.Cologne 2025800 Leute lauschen weihevoll Christian Kracht – aber meint er das alles ernst?

Lesezeit 5 Minuten
Christian Kracht liest am 24. März 2025 im Rahmen der lit.Cologne im Saal 2 des Staatenhauses.

Christian Kracht im Saal 2 des Kölner Staatenhauses

Autor Christian Kracht beschwört im Kölner Staatenhaus den Himmel über den Orkneyinseln und die Bilderflut der Cloud. Ein bemerkenswerter Abend.

Ein einsamer, kleiner Lesetisch steht im Saal 2 des Staatenhauses, flankiert von zwei Wimpeln der lit.Cologne, dahinter eine Opernkulisse aus riesigen Säulengängen, weiß verhangen, bläulich schimmernd. Davor steigen 33 Sitzreihen mit 800 Plätzen an. Der Raum wirkt wie ein Flugzeughangar. Helge Malchow, vormaliger Verlagsleiter von Kiepenheuer & Witsch, tritt vor das voll besetze Parkett. Seit 30 Jahren, erzählt Malchow, arbeite er mit Christian Kracht zusammen.

Kurze innere Panik: Sind wirklich 30 Jahre vergangen, seit Kracht mit „Faserland“... nun ja, der deutschen Literatur einen ähnlich nachhallenden Schock verpasst hatte, wie weiland Goethes „Werther“? Oder sollte man, als ähnlich wuchtigen Vergleich, Jack Kerouacs „On the Road“ herbeizitieren? Dessen Bild, also Jack Kerouacs, auf einer sepiafarbenen Postkarte gehört zu den Standard-Accessoires, mit denen der Schweizer Innenarchitekt Paul in Krachts neuem Roman „Air“ leerstehende Immobilien in Wohnträume verwandelt, harmonierend mit alten türkischen Kelims oder weißen Schafwollteppichen.

Vor 30 Jahren verpasste Christian Kracht mit „Faserland“ der deutschen Literatur einen Schock

Oder mit sorgfältig arrangierten orangefarbenen Rhododendronzweigen in tönernen Krügen vor seladongrünen Wänden. Allerdings stellt Paul diese Arrangements nur für Bilder auf der Seite der jeweiligen Maklerfirma zusammen. Deren Kunden sehnen sich nach aufgeräumter Innerlichkeit. Paul verfestigt dieses Streben zur Dekoration. Ist die erst einmal fotografiert, versetzt er die Zimmer wieder in ihren Urzustand schäbiger Verlassenheit.

Seine Bibel ist ein obskures Magazin namens „Kūki“, das auf „rauem, hellbraunem Recyclingpapier gedruckt“ die Erotik des Verzichts predigt, skandinavischer Minimalismus als Weg zum Seelenheil: „Eine sanfte, leicht verschrobene, antikapitalistische Mystik.“ Dementsprechend aufgeregt ist der Ästhet, als der „Kūki“-Chefredakteur Cohen ihm den Auftrag erteilt, für eine „immense dunkle Halle in Norwegen“ den perfekten Weißanstrich zu finden. Es handelt sich um eine gigantische Serverfarm, die sämtliche Trillionen Bilder speichert, die Menschen zur Cloud hochschicken, aber in diesem Moment könnte es auch der Saal 2 im Staatenhaus sein. Sofort macht sich Paul auf nach Stavanger, das Businessclass-Flugticket befindet sich im Anhang der Mail. „Kūki“ ist japanisch für „Luft“, für den Romantitel „Air“.

Alle große Literatur, sagt Helge Malchow, ist Literatur über das Reisen

Alle große deutschsprachige Literatur, bemerkt Malchow, sei Literatur über das Reisen. Und die Reise wiederum sei eine Metapher dafür, dass der Leser am Ende des Romans ein anderer geworden sei, der Autor ebenso. Christian Krachts Romane jedenfalls entfalten ihre Handlung so gut wie immer on the road, seine Helden begeben sich, mal mehr, mal weniger freiwillig, auf Reisen ins Unbekannte.

Woraufhin Kracht die Bühne betritt. Weniger, wie einer der Stargäste des Kölner Lesefests, denn als Durchreisender, der eine überdimensionierte Wartehalle quert. Kracht trägt eine gewachste grüne Barbourjacke – so, als wäre er just den Seiten von „Faserland“ entsprungen – und er wird diese wetterfeste, speckig glänzende Panzerung in den kommenden 80 Minuten nicht ablegen. Weiß man ja nie, wie das Wetter drinnen wird. Dazu hat er sich einen langen roten Tartanschal umgebunden und auch das passt wunderbar ins Bild, denn sein Protagonist Paul wohnt zusammen mit einer einäugigen Katze – man denkt an Edgar Allan Poes misshandelten schwarzen Kater – in einem kleinen Haus in der Hafenstadt Stromness auf den Orkneyinseln, im äußersten Norden Schottlands.

Christian Kracht liest am 24. März 2025 im Rahmen der lit.Cologne im Saal 2 des Staatenhauses.

Christian Kracht in Köln

Er beginne einfach mal am Anfang, erklärt der berüchtigt schüchterne Kracht – oder ist das längst nur noch eine Behauptung? – ohne weitere Begrüßung. Kapitel Eins. „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich“, hebt er an. Ein fantastisch doppelbödiger Einstiegssatz. Die im Saal Lauschenden können sich aussuchen, ob Kracht hier die relative Krisenfestigkeit der Begüterten ironisiert – oder die Bodenständigkeit ihrer sorgenvollen Realität sogleich in Luft auflöst.

Die Beschreibungen der Lifestyle-Verirrungen seines Protagonisten sind von befreiender Komik: Wie der sich auf seinem gangschaltungslosen Schweizer Militärvelo schwitzend eine Stunde lang durch den Orkney-Sprühregen einen Berg hinauf quält, um einen einzelnen Brotlaib bei einer im „Kūki“-Magazin lobend erwähnten Sauerteig-Bäckerei zu erstehen – es wäre zum Schreien. Eigentlich.

Aber das Kölner Publikum hält weihevolle Ruhe. Nach der Lesung diskutieren zwei Besucher auf der Herrentoilette, ob das jetzt gewollt oder ungewollt komisch sei. Es ist nicht leicht, als Autor verstanden zu werden. Dabei ist bereits Krachts Performance am Lesetisch äußerst unterhaltsam, aller Zurückhaltung zum Trotz. Wie er mit der linken Hand die imaginäre einäugige Katze krault, wie er bei der ersten Erwähnung des „Wasser des Lebens“ zur Karaffe greift, Glas und Karaffe in der Folge immer wieder neu auf der Tischplatte arrangiert.

Der Autor liest in Köln nur die ungeraden Kapitel von „Air“. Die Geraden erzählen eine ganz andere Geschichte: Die neunjährige Jägerin Ildr schießt einem Reh einen Pfeil in die Brust, das Wild verwandelt sich daraufhin in den Innenarchitekten. Auch das mittelalterliche Fantasyland ist nicht ohne Sorgen, es grassiert der Gelbe Tod und auch ein genretypisch grausamer Fürst. Später durchdringen sich Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit, selbst der „Kūki“-Chefredakteur taucht irgendwann im Fantasiereich auf.

Doch das soll sich jeder selbst erlesen. Christian Kracht geht mit einem gehauchten „Dankeschön“ ab. Die lit.Cologne-Besucher strömen sogleich aus dem Saal 2 in Richtung Signiertisch, reihen sich zu einer langen Schlange entlang des Absperrbandes. Es sieht aus, als wollten sie beim Autor zum Abflug einchecken.

Christian Kracht: „Air“, Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 25 Euro