Der Historiker Christopher Clark („Die Schlafwandler“) stellte bei der lit.Cologne Spezial sein neues Buch zur Revolution von 1848 vor.
Christopher Clark bei der lit.Cologne SpezialDer Geschichtslehrer, den wir alle brauchen
Als Christopher Clark in der Schule zum ersten Mal von der 1848er-Revolution hörte, motivierte ihn das nicht gerade, sich weiter mit ihr zu befassen. Sein Lehrer soll sie mit zwei Adjektiven beschrieben haben: kompliziert und gescheitert. „Ich weiß noch, wie ich gedacht habe: Das ist eine sehr unattraktive Kombination“, so Clark am 18.10. im WDR Funkhaus in Köln. Er stellte dort für die lit.Cologne Spezial sein neues Buch vor.
Ein Buch, das sich zur Freude aller historisch Interessierten eben diesem Thema widmet, und das nicht zu knapp. „Frühling der Revolution“ ist ein Wälzer mit über 1000 Seiten. Wer sein Exemplar signieren lassen wollte, was einige taten, musste schleppen. Der Moderator des Abends, Joachim Frank, Mitglied der Chefredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“, hat im Gegensatz zu Clark keine Erinnerung daran, es in der Schule überhaupt behandelt zu haben. Als er eine Stichprobe macht und die diejenigen Gäste um ein Handzeichen bittet, die das Thema in der Schule hatten, melden sich aber fast alle. Immerhin ein bisschen Rehabilitation für den Geschichtsunterricht.
Historiker Christopher Clark in der lit.Cologne Spezial
Aber was auch immer in der Schule durchgenommen wurde: Kann man sich einen besseren Geschichtslehrer wünschen als Christopher Clark? Einen Historiker, der schon mit seinem Werk zum Ersten Weltkrieg („Die Schlafwander“) bewiesen hat, dass er die ganz großen internationalen Themen händeln kann, und dabei immer eine gewisse Contenance bewahrt. Auch auf der lit.Cologne schildert er auf gewohnt unaufgeregte Weise sowohl die harmonischen als auch die gewalttätigen Momente der Revolution von 1848. Als säße man zur Teestunde mit einem entfernt verwandten Onkel im heimischen Wohnzimmer. Vielleicht so ein Nebeneffekt, wenn man ihn als ZDF-Geschichtserklärer bei „Terra X“ erlebt hat.
Dass Christopher Clark mit seiner Faszination für die Vergangenheit auch anstecken kann, liegt wohl nicht zuletzt an seiner Akribie, die er wegen des Quellenreichtums auch braucht. 1848 sei die gesprächigste Revolution, die es jemals gegeben hat, so Clark. „Alle wollen erzählen: Was habe ich gemacht? In welchem Kontext sehe ich mein Tun?“ Das habe auch damit zu tun, dass die Zeitzeugen die Französische Revolution „wie einen alten Kinofilm“ im Hinterkopf hatten, eine Art Schablone, vor der sie das aktuelle Geschehen ablesen konnten. Dadurch erkannten sie auch die historische Tragweite ihrer Zeit. Viele der Teilnehmenden hätten in einem Schreibrausch in nur wenigen Monaten dicke Bücher dazu geschrieben, Tabellen und Fußnoten inklusive. „Ich wollte dieser Mitteilsamkeit gewachsen sein. Ich wollte, dass das Buch diese Stimmen hörbar macht.“
Der „Frühling der Revolution“ war die Hochphase der Bewegung
Mithilfe dieser Stimmen schildert er in Köln einen groben Ablauf der Geschehnisse, die er in drei Jahreszeiten gliedert. Im Frühling der Revolution habe Einheit geherrscht. Schilderungen aus Mailand, Wien, Berlin, Köln und anderen Städten beschreiben, wie einander fremde Menschen aus unterschiedlichen Ständen sich schluchzend umarmten.
Clark zitiert einen jungen Jurastudenten, dessen Herz so stark geschlagen habe, dass es ihn nicht in seiner Studentenbude hielt. Er lief auf die Straße und schrieb: „Ich hatte das Gefühl, ich konnte den Herzschlag der anderen Menschen hören.“ Damit beschreibe er das Gefühl eines Eintauchens in ein kollektives Ich. „Das ist der Kern der Revolution als Erlebnis, dass man Teil eines Ganzen ist. Damit wird der städtische Raum auf eine Weise belebt, die bis dahin kaum vorstellbar war.“
Auch die Gewalt habe diesem Gefühl keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, man habe durch große Beerdigungszeremonien die Toten geehrt. Das war auch nötig, weil solche Kämpfer in Friedenszeiten in der Regel als Verbrecher galten. „Durch eine Art politische Alchemie musste man sie verwandeln und zu Gründern einer neuen politischen Ordnung machen.“
Die Interessen der Akteure der 1848er-Revolution kollidierten miteinander
Im Sommer merkte man dann, dass die Einheit fadenscheinig war. Da waren die Liberalen, die nur die politische Öffnung für die Gebildeten und Wohlhabenden wollten und eine Demokratie gar nicht im Sinn hatten, ganz im Gegensatz zu den sogenannten „Radikalen“, die sich auch für die Mitbestimmung der Arbeiter einsetzten. Die Interessen dieser Gruppen, die sich weiter aufspalten lassen, prallten aufeinander. In Berlin etwa gerieten radikale Handwerker und Arbeiter, die sich im Zeughaus bewaffnen wollten, an Nationalgardisten bürgerlicher Herkunft. „Überall driftet die Sozialrevolution der Radikalen und die politische Revolution der Liberalen auseinander.“
Dabei suchten einige wieder bei alten Autoritäten Halt. Diese erkannten immer mehr an, dass sie die Revolution zwar nicht ungeschehen machen, sie aber managen konnten. König Friedrich Wilhelm IV. etwa konnte sich in Berlin festbeißen, obwohl seine Befehle zum Tod von 200 Menschen geführt hatten. Clark berichtet: „Es gibt eine außerordentliche Szene, in der die Leichen auf dem Schlossplatz zusammengetragen werden. Man will sie dem König vorführen. Man will, dass der König herauskommt und sieht, wie sein Handwerk aussieht.“ Er kommt mit der Königin heraus, sieht die Leichen, die an ihm vorbeigetragen werden, sieht auch die Wunden, da man den Toten vorher die Hemden öffnete. Er wird kreidebleich.
Dann fängt jemand an, die Hymne „Jesus, meine Zuversicht“ zu singen. Langsam stimmen alle ein, auch der König. „Und plötzlich verflüssigte sich die Wut und die Frustration. Es kam dann nur Trauer. Und die Menschen, die ihre Toten getragen haben, fielen auf die Knie und schluchzten.“ An dieser Szene erkenne man, dass das Volk trotz ihrer Empörung noch nicht bereit war, den preußischen König aus ihrem moralischen Horizont zu verbannen. So konnte er sich als Konterrevolutionär an den Kopf der Bewegung setzen, um sie dann soweit möglich zu untergraben. Ein revolutionärer Herbst.
Ist die Revolution gescheitert?
Hatte Clarks Geschichtslehrer also recht mit seiner Beschreibung der Revolution als gescheitert? Clark meint, die Frage greife zu kurz. Denn schon die Absichten der Revolutionäre sind so vielfältig und widersprüchlich, dass man das höchstens aus der Perspektive der verschiedenen Gruppen beantworten kann.
Frauen gingen im Grunde leer aus, obwohl, wie im Buch deutlich wird, sich einige von ihnen für die Revolution eingesetzt hatten. „In vieler Hinsicht wurde der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben sogar verstärkt.“ Aber: Sie konnten Netzwerke aufbauen, eine wichtige Ressource bei der späteren Emanzipation. Die Akteurinnen der Revolution kehrten als Pioniere der Frauenbewegung zurück. Auch der Blick auf die anderen gesellschaftlichen Gruppen lässt erkennen, dass die Revolution den ganzen Kontinent nachhaltig verändert hat. Viele Staaten erhielten Verfassungen, die bis in die Gegenwart nachwirken.
Das Kölner Publikum bekommt ein bisschen Regionalgeschichte
Die interessanten Parallelen, die Clark zwischen 1848 und heute sieht, bleiben bei der lit.Cologne leider nur eine Randnotiz. Dafür bekommen die Kölnerinnen und Kölner immerhin ein bisschen Regionalgeschichte: Joachim Frank macht den Zentraldombauverein als „eine revolutionäre Zelle“ aus, woraufhin Clark ergänzt, dass Vereine durch die Möglichkeit zum Meinungsaustausch leicht politisierbar waren. Ausführlich schildert Clark das Leben des Kölners Robert Blum, ein redegewandter Schriftsteller, der auch im Frankfurter Parlament tätig war. „Dort zeichnete er sich aus als ein Radikaler, der niemals bereit war, das Gespräch mit der Mitte abbrechen zu lassen.“
Möge auch Clark das Gespräch mit der Öffentlichkeit nie abbrechen lassen. Schließlich ist er der Geschichtslehrer, den wir schon immer gebraucht haben.